Hive – Kritik

Triumph und Trauer nach dem Krieg: Blerta Basholli erzählt in Hive die wahre Geschichte einer Schicksalsgemeinschaft albanischer Witwen – und von kleinen Errungenschaften inmitten großen Unglücks.

Reale Geschichten über Menschen vom Rande der Gesellschaft, die sich durch unkonventionelle Mittel selbst ermächtigen, sind ein beliebtes Subgenre des Unterhaltungsfilms, siehe etwa Ganz oder gar nicht (The Full Monty, 1997), Kalender Girls (2003), Kinky Boots (2005) oder Pride (2014). Man kann sich daher leicht eine Version von Hive aus weniger sicheren Händen vorstellen, die sich entweder auf der Oberfläche ihrer inspirierenden Prämisse oder im Melodram der menschlichen Tragödie verliert. Eine Version, in der die albanische Witwe Fahrije Hoti (Yllka Gashi) jedes Hindernis überwindet, wenn sie gemeinsam mit ihren Schicksalsgenossinnen beginnt, hausgemachte Ajvar-Paprikapaste herzustellen und sich dabei zunehmend gegen die Anfeindungen der patriarchal geprägten Dorfgemeinschaft verteidigen muss – in der sie also durch einen großen Triumph als gestärkte Frau ihre Traumata hinter sich lässt. Blerta Basholli aber interessiert sich nicht für eine erzwungene Katharsis. Sie feiert Fahrijes Errungenschaften; zugleich macht sie deutlich, dass der Triumph die Trauer niemals aufhebt.

Pragmatische Revolte

1999 marschierten während des Kosovo-Kriegs serbische Truppen in die Ortschaft Krusha e Madhe ein und veranstalteten ein Massaker an der Bevölkerung. 241 Menschen wurden getötet, die meisten von ihnen Männer. Noch heute gelten über 63 Dorfbewohner als vermisst. Seit dem Massaker muss sich auch Fahrije allein um ihre beiden Kinder und ihren invaliden Schwiegervater Haxhi (Çun Lajçi) kümmern. Trauma und Entbehrungen haben sie hart gemacht – sie muss funktionieren, zum Wohle der Familie, als Mutter, Seelsorgerin, Hausfrau, Pflegerin, Erzieherin, Managerin, Klempnerin.

Am Abend geht sie oft in die Stadt, um Kleidung aus neu ausgehobenen Massengräbern zu identifizieren – vielleicht ist ja ihr Mann dabei. Weil Geldverdienen in der dörflichen Gemeinschaft immer noch Männersache ist und selbst der Besitz eines Führerscheins als Schande für eine Frau gilt, befindet sich die Dorfgemeinschaft in einer Zwickmühle. Fahrije sieht sich gezwungen, diese Starre zu durchbrechen. Weniger aus Idealismus als aus dem pragmatischen Grund, eine Familie ernähren zu müssen.

Mit einigen kreativen Freiheiten hat Basholli Hotis Geschichte um die Themen Sexismus, Trauerbewältigung und Selbstermächtigung herum organisiert, untersucht, wie diese drei Dinge miteinander zusammenhängen. Ihr Stil ist dabei geduldig und unaufdringlich, die Kameraführung von Alex Bloom gleichzeitig nüchtern-dokumentarisch und sorgsam choreographiert. Im Zentrum steht Yllka Gashi: Ihr Schauspiel fängt die schmucklose Präzision des Films auf; ihre Unnahbarkeit erzählt von dem Schutzschild, den Fahrije sich zum Überleben aufgebaut hat; ihr undurchdringlicher Blick, der oft einen Großteil der Kinoleinwand füllt, entwickelt einen Sog, so dass jedes Stirnrunzeln, jede ungewöhnliche Neigung des Kopfes einen Schwall an Emotion vermittelt.

Eine Dorfgemeinschaft in Schockstarre

Als die ersten Steine durch Fahrijes Autofenster fliegen, ist die Ungerechtigkeit schwer zu ertragen. Hive verweigert sich aber trotzdem klaren Feindbildern. Der Film bemüht sich um die Momentaufnahme einer Dorfgemeinschaft, die sich seit Jahren in einer Schockstarre befindet und über deren Leben immer noch der Schleier eines schrecklichen Verbrechens liegt. Manche richten den Blick pragmatisch nach vorne, andere wenden sich auf der Suche nach Fixpunkten verbissen ihren traditionellen Werten zu. Was sie eint, ist ein kollektiver Schmerz, den Basholli mit großer Geduld und Empathie einfängt.

So bringt Hive dem Publikum ein so bedrückendes wie wenig bekanntes Kapitel europäischer Geschichte näher. Dass der Film trotzdem eine Leichtigkeit besitzt, ist dem sorgfältig balancierten Handwerk aller Beteiligten zu verdanken. So kann er zugleich zart und schwer, traurig und lebensbejahend sein

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