Here – Kritik
Wo Urwald war, wird Wohnzimmer: Was wäre, wenn über Jahrzehnte hinweg eine Kamera am gleichen Platz kontinuierlich glasklare Bilder aufgenommen hätte? In Here schleudert Robert Zemeckis sein Publikum durch die Geschichte amerikanischer Häuslichkeit des 20. Jahrhunderts.

In einem gutbürgerlichen Wohnzimmer scheint plötzlich links unten ein grünes, leuchtendes Rechteck auf. Im ersten Moment mag man es für eine Tapete halten, doch schnell wird klar: Es handelt sich um ein genuines Stück Natur. Das bald die gesamte Leinwand übernimmt. Wo Wohnzimmer war, ist Urwald. Und wenig später Feldweg. Und noch ein wenig später wieder Wohnzimmer, allerdings ein anderes. Meist kündigt sich der Wechsel, siehe oben, durch ein Rechteck an, ein Frame innerhalb des Frames, der aus dem Rest des Bildes ausgeschnitten und durchsichtig gemacht wird, auf etwas, das, tja, in einem gewissen Sinn „dahinter“ zu liegen scheint. Wobei wir schnell herausfinden: Tatsächlich handelt es sich nicht um eine räumliche, sondern um eine historische Differenz. Wir bleiben, unter den Bedingungen filmischer Illusion, stets wo wir sind. Und werden vom Film durch die Geschichte geschleudert.
Fiktion eines Fixpunkts

“Die Substanz des Kinos ist eine endlose Plansequenz”: Pier Paolo Pasolini stellte in einem Aufsatz aus dem Jahr 1967 Spekulationen an über eine Kontinuität filmischer Bildlichkeit, die mit der Realität gewissermaßen in eins fällt; die allerdings schließlich doch noch an eine Grenze stößt, und zwar an eine biologische: “eine Plansequenz, die mit unserem Leben endet.” Knapp sechs Jahrzehnte nach Veröffentlichung dieser Gedanken startet ein Film, der belegt, dass selbst Pasolinis den Film zum Leben hin entgrenzendes Pathos das Kino noch zu kurz und zu klein gedacht hatte. Zu anthropomorph außerdem.
Robert Zemeckis’ Here beginnt mit der Fiktion eines Fixpunkts: Was wäre, wenn über Stunden, Tage, Jahre, Jahrtausende hinweg eine einzige Kamera, statisch am ewig gleichen Platz fixiert, kontinuierlich glasklare Bilder aufgenommen hätte. Wenn sich vor dieser Kamera zunächst das Spektakel der Elemente, später das Spektakel der Natur und schließlich das Theater der menschlichen Zivilisation entfaltet hätten. Wenn die Kamera zunächst Staub, Lava und Eis, später Wälder und Urzeitmenschen, schließlich eine Serie von Wohnzimmerdekors eingefangen hätte, arrangiert vor stets demselben breiten Fenster, das sich auf eine Kleinstadtstraße hin öffnet. Wenn vor ihr, schließlich, in immer wieder neuen Variationen, Kinder zu Erwachsenen herangewachsen, Ehen geschlossen worden und auseinandergebrochen wären, Menschen ihr Glück gefunden oder sich selbst in bitterer Einsamkeit zugrunde gerichtet hätten. Und wenn zu all dem, gefühlt fast durchgängig, Variationen derselben majestätischen Alan-Silvestri-Streichermelodien erklungen wären.
Ackerbauliches Blickregime

Here basiert auf einer Graphic Novel von Richard McGuire, also einem (Gesellschafts-)Roman in Comicform. Doch nicht nur diese beiden Künste schwingen mit in einem Film, in dem das Kino ein weiteres Mal seinen Anspruch untermauert, alle anderen Medien in sich aufzunehmen und in gewisser Weise über sich hinauszutreiben. Das über die Jahrzehnte sich wandelnde Wohnzimmer (und auch schon die urzeitliche Waldlichtung, die dereinst Wohnzimmer werden wird) ist, vor allem, eine technologisch entgrenzte Theaterbühne; ein gewissermaßen verflüssigter Theaterraum, der mit digitaler Leichtigkeit beständig neu angemalt, dekoriert und ausgeleuchtet wird. Tatsächlich nutzt auch der gut aufgelegte Cast den filmischen Raum immer wieder für klassische Bühneneffekte – erwähnt sei hier nur Tony Ways Kurzauftritt mitsamt boulevardtheaterwürdiger Sterbeszene. Die aufpoppenden Rechtecke wiederum verweisen auf die digitalen Benutzeroberflächen, mit denen wir tagtäglich zu tun haben. Tatsächlich ist Here nicht zuletzt ein Film über die fluide Visualität digitaler Medien. Stasis und Dynamik bedingen sich dabei gegenseitig: Der Film setzt einen starren Rahmen – innerhalb dessen dann alles möglich ist.
Der Blick, der so imaginiert wird, kann jedenfalls kein menschlicher sein, nicht einmal mehr in der idealisierten Pasolini-Fassung. Aber auch kein göttlicher – schließlich ist ihm die Beschränkung auf eine einzige Perspektive eingeschrieben. Eher haben wir es mit einem (um eine weitere Kunstform aufzurufen) architektonischen, oder, warum nicht, ackerbaulichen Blickregime zu tun: Die Leinwand als eine Fläche, die bewirtschaftet wird. Konflikte werden gesät, reifen heran, werden geerntet - nur um in der nächsten Generation, dem nächsten Jahrhundert, der nächsten naturgeschichtlichen Epoche durch neue ersetzt zu werden.
Freilich sind wir, die wir im Kino sitzen, nicht selbst der Landwirt, sondern diejenigen, die die Früchte der Unternehmung genießen. Here ist ein Film für alle, die noch nicht verlernt haben, der Wundermaschine Kino zu vertrauen (und die, darf man angesichts des bisherigen Presseechos anfügen, besseres zu tun haben, als sich über die hier und da nach wie vor etwas irritierende digitale De-Aging-Technologie zu mokieren; darüber wird anderswo genug geschrieben, ich lasse es hier weg; mich hat das Wissen um die Rechenpower hinter Hanks’ und Wrights jugendlichen Teints jedenfalls keine Sekunde lang aus dem Film geworfen). Besonders spektakulär sind stets die Szenen, in denen, siehe oben, die Tapeten und Teppichböden des Wohnzimmers durch üppig aufblühende Wiesen, oder auch die vereisten Einöden längst vergangener Erdzeitalter ersetzt werden. Diese frühzeitlichen und frühneuzeitlichen Impressionen bleiben freilich, aufs Ganze betrachtet, eher Zwischenspiele, Momente des Durchatmens, des Durchlüftens: weg mit den Neurosen der Moderne, hier kommt die Natur. Ähnliches gilt für die Szenen, die am nächsten an der Gegenwart angesiedelt sind; in denen hat eine schwarze Mittelklassefamilie das Haus übernommen, was der Film zum Anlass nimmt, in etwas zu kursorischer Manier Themen wie Polizeigewalt und die Covid-Pandemie durchzuhecheln.
Drink um Drink, Zeitsprung um Zeitsprung

Im Kern ist Here ein Film über Häuslichkeit im 20. Jahrhundert. Vier Familien bewohnen in dieser Zeit das Eigenheim, das sich unserem Blick öffnet. Zunächst ein Pilot und seine Frau – der Mann überlebt zahllose halsbrecherische Flüge, aber stirbt an der Spanischen Grippe. Dann zwei Bohemians, ein Pin-up-Model und ein Erfinder, dem mit dem „Lay-Z-Boy“-Recliner der große Durchbruch gelingt: ein rollender, dreh- und auf Knopfdruck in ein Bett verwandelbarer Stuhl. Ein Produkt so genial wie sein Name, finaler Triumph der das häusliche Leben in ein Schlaraffenland der Bequemlichkeit verwandelnden Konsumkultur. Die Szenen, die ihm, seinem Erfinder und dessen Gespielin gewidmet sind, sind die einzigen rundum glücklichen, regelrecht euphorischen des Films. Von hier aus kann es nur noch abwärts gehen.
Und es geht bergab. Als nächstes übernehmen Al und Rose Young (Paul Bettany und Kelly Reilly) das Haus. Al schleppt ein Kriegstrauma mit sich herum, das er bis zum Ende seines Lebens nicht ganz loswerden wird. In gewisser Weise überträgt er es sogar, während er sich über die Jahrzehnte hinweg stets an derselben Ecke des Wohnzimmers Drink um Drink eingießt, auf die nächste Generation. Sein Sohn Richard (Tom Hanks), Dreh- und Angelpunkt des Films, übernimmt das Haus gemeinsam mit seiner Frau Margaret (Robin), gemeinsam ziehen sie hier ihrerseits ein Kind groß. Vorderhand ist bei dieser zweiten Young-Familie alles in Butter: Das Wohnzimmersofa wird regelmäßig durch ein neues Modell ausgetauscht, das Fernsehgerät wird größer und bunter, die Tochter Elizabeth (Leslie Zemeckis) wächst zur erfolgreichen Anwältin heran… eine ganz normale Nachkriegserfolgsgeschichte; und doch verdüstert sich der Film kontinuierlich, von Zeitsprung zu Zeitsprung. Und zwar, weil sich, was einst Möglichkeitsraum war, mehr und mehr in ein Selbstgefängnis verwandelt.
Urszene klaustrophobischer Domestizität

Aber noch einmal einen Schritt zurück. Wir sehen, zur Erinnerung, von dem Haus, ganz gleich wer darin wohnt, stets nur das Wohnzimmer. Wir sehen nicht, oder nur einmal kurz, durch einen geschickten Spiegeleffekt (als Showman alter Schule weiß Zemeckis, dass ein Vorteil selbstgesetzter Regeln darin besteht, sie jederzeit selbst brechen zu können): die Veranda, das Schlafzimmer, das Kinderzimmer, die Küche. Wir sehen, anders gesagt, denjenigen Teil des Hauses, der der Straße, dem öffentlichen Raum zugewandt ist, das Zimmer, in dem das Familiäre zur Aufführung kommt, als wäre es selbst Teil der Öffentlichkeit. Wir sehen nicht die Räume der privaten Einsamkeit, der Intimität. Wenn sich Richard und Margaret doch einmal auf dem Wohnzimmersofa aneinander zu schaffen machen, stehen sofort die jüngeren Geschwister in der Tür – eine Urszene der klaustrophobischen Domestizität, wie sich später herausstellen wird.
Here zeigt eine Form der gewissermaßen institutionalisierten Häuslichkeit, der der Reflexionsraum des Privaten mehr und mehr abhanden kommt. Die Dingkultur nimmt überhand und verfestigt sich. Anstatt in Gestalt des Lay-Z-Boys zum Medium souveräner, hedonistischer Individualität zu werden, engt sie den Einzelnen ein, „fesselt“ ihn vor dem Fernseher, triggert Neurosen. Einmal verschluckt das Sofa ein Armband Elizabeths und produziert eine mittelschwere Familienkrise. Nicht die Familie wohnt im Eigenheim, das Eigenheim wohnt im Kopf der Familie, oder jedenfalls im Kopf Richards. Immer wieder neue Gründe findet er, nicht aus dem Elternhaus auszuziehen, auch nicht, wenn Margaret noch so sehr darauf drängt, endlich umzuziehen; irgendwohin, wo sie nicht immer schon umgeben ist von den Kräften der statischen Beharrung. Auf eigenartige Weise verschränkt sich die filmische Methode mit der Figurenintention: Wenn Richard sich weigert, aus dem Haus, in dem er aufgewachsen war, auszuziehen, dann weigert er sich auch, den Film, den wir uns ansehen, zu verlassen. Platz zu machen für andere Geschichten, andere Familien, oder vielleicht auch: für etwas anderes als Familien.
Schleichende Ermüdung der Häuslichkeit

Was aber sind die Quellen der Stagnation, die insbesondere Richard im Laufe des Films mehr und mehr paralysiert? Die Stabilität im Inneren verweist auf die Stabilität im Äußeren. Das amerikanische Festland ist im 20. Jahrhundert von Kriegen verschont geblieben. Auch deshalb kann es jetzt als eine Kontinuität des Häuslichen erzählt werden. Von hier, vom Eigenheim aus bricht man gelegentlich in Kriege auf, idealistisch, oder kehrt aus ihnen zurück, traumatisiert, aber die eigenen vier Wände sind vor äußeren Bedrohungen sicher. Selbst das „historical house“ auf der gegenüberliegenden Straßenseite, in dem einst Benjamin Franklins unehelicher Sohn lebte, bleibt felsenfest an seinem Platz, das kleine Familienleben mit der Gesamtheit der Nation verknüpfend.
Zemeckis erzählt vom zwanzigsten als einem zivilen Jahrhundert. (Nicht zum ersten Mal, nebenbei bemerkt, erweist sich der Regisseur als ein begnadeter, bösartiger Ironiker, wenn er die glücklichste Phase in der Geschichte des Hauses, die Lay-Z-Boy-Episode, ausgerechnet auf die Schlussphase des Zweiten Weltkriegs legt, in die Jahre des womöglich schlimmsten Massensterbens der Menschheitsgeschichte.) Die Konflikte der Weltpolitik wie der amerikanischen Gesellschaft werden in das Wohnzimmer hineinkopiert, ohne dabei voll ausagiert werden zu müssen. Sie schlagen sich nieder nicht in Mord und Totschlag, sondern in einer schleichenden Ermüdung. Die Häuslichkeit ist nicht mehr nur ein sicherer Hafen, in dem man vor dem Unbill der Welt geschützt ist, sie wird gleichzeitig zum Gefängnis, zum Sarg. Was misslingt, könnte man auch sagen, ist die innere Transformation des Sozialen. Wenn die äußeren Umstände die Menschen nicht mehr dazu zwingen, ihr Lebensumfeld laufend zu erneuern, dann müssen diese es aus eigenem Antrieb tun. Ob sie für diese Aufgabe gerüstet sind, ist eine offene Frage.
Wie schnell die Zeit vergeht…

In gewisser Weise ist diese Chronik eines in Mittelklassewohlstand eingemauerten Boomer-Lebens auch ein skeptisches Korrektiv zu einem älteren Film Zemeckis’, seinem zwar nicht besten, aber vermutlich vor Here ambitioniertesten. In Forrest Gump hatte der Regisseur ebenfalls den Versuch unternommen, Tom Hanks zum Medium der Geschichte des 20. Jahrhunderts zu machen – indem er ihn, in technisch brillanter aber gedanklich doch eher schlichter Manier in Schlüsselbilder der Zeitgeschichte hineinmontierte. Als eine Art Heiliger Narr des Kinos trat Hanks in Forrest Gump auf, im Sinne eines ziemlich naiven „Mittendrin statt nur dabei“-Kurzschlusses von Individuum und Gesellschaft. In Here hingegen ragt die große Geschichte stets nur momenthaft, ausschnittsweise in Zemeckis’ Rahmen hinein, etwa wenn Richards Bruder der versammelten Familie am Esstisch mitteilt, dass er sich freiwillig zum Kampf im Vietnam-Krieg gemeldet hat. Anstatt dass er die Kämpfe, Hoffnungen und Ängste des späten 20. Jahrhunderts verkörpert, ist Geschichte für Hanks in Here eher das, was er immer schon verfehlt.
Woraus Zemeckis ihm freilich keinen Strick dreht. Keineswegs geht es dem Film darum, sich über die Passivität seiner Hauptfigur moralisch zu erheben. Schon die gewissermaßen kosmische Perspektive, die die Erzählweise des Films etabliert, verhindert derart kleingeistige Besserwisserei. Die Grundstimmung ist vielmehr sentimental und melancholisch. Dass einem das eigene Leben unter den Fingern zu zerrinnen scheint, das dürfte eine weit verbreitete, fast universelle Erfahrung sein, Richard ist nur ein – freilich historisch klar verortetes – Extrembeispiel. Vor allem gegen Ende weisen sich die Figuren im Film immer wieder gegenseitig eben darauf hin: Ach, wie schnell doch die Zeit vergeht, eben waren wir noch jung und so weiter.
Die Verdoppelung des Mondes

Man mag das manchmal etwas ungelenk finden, schließlich verbalisieren die Figuren in solchen Szenen nur aus, was man ohnehin sieht. Aber andererseits gehört eben diese Verdopplung von Erleben in Reflexion ebenfalls zu den Erfahrungen der Moderne. Genau das wäre eine andere, hoffnungsvollere Perspektive für, sagen wir mal, postheroische Häuslichkeit, im Film nimmt sie zwar nicht viel Raum ein, wird aber hier und da angedeutet. Reflexion und Verdopplung der Welt in der Kunst. Richard ist, vielleicht vor allem anderen, ein verhinderter Maler; sein Leben scheitert, daran lässt Zemeckis wenig Zweifel, exakt in dem Moment, in dem er seinen Jugendtraum von der Künstlerkarriere aufgibt und einen Bürojob annimmt. In einer der schönsten Szenen dieses ultimativen Films über das amerikanische Jahrhundert ist sein Traum noch lebendig. Er hat seine Leinwand vor dem Fenster aufgebaut und verdoppelt den Mond. Es gibt den Himmelskörper ab sofort zweimal. Einmal draußen in der Welt, da sieht man ihn zumeist nicht, weil die Hauswand im Weg ist. Und einmal auf der Leinwand, als Bild. Und solange die Arbeit am Bild weitergeht, oder wieder aufgenommen werden kann, ist noch nicht alles verloren.
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