Hema Hema: Sing Me a Song While I Wait – Kritik

Tief in den Wäldern Bhutans tragen die Mitglieder eines Geheimbunds rituelle Masken und zelebrieren ein Leben ohne Gesetze. Hema Hema: Sing Me A Song While I Wait entfesselt ein Spiel wohliger Angstlust, das sich auch von Vergewaltigung und Mord nicht stoppen lässt.

Hema Hema Sing Me a Song While I Wait 3

Eine Maske aufsetzen, um alle Masken fallen zu lassen – die Identität verbergen, um sein wahres Ich zeigen zu können. Diese Dialektik steckt im kulturhistorischen Kern des Karnevals. Vor der Fastenzeit, der „Fleischwegnahme“ (carne vale), wird noch einmal orgiastisch gefeiert. Der Sturm vor der Ruhe, die Ausschweifung vor der Askese. Der Karneval ist eine Zeit des Exzesses, der Enthemmung und Überschreitung: Verkleidet als ein anderer, darf der brave Bürger Dinge tun, die sonst mit sozialen oder gar rechtlichen Sanktionen verbunden wären – Fremde küssen, Krawatten abschneiden, Kleider des anderen Geschlechts tragen, den König kritisieren. In manchen Gesellschaften wurden während dieses politischen Ausnahmezustands selbst Morde nicht geahndet. Der Karneval ist ein Ventil, über das einmal im Jahr jener Druck abgelassen wird, den die Kultur mit ihren Verboten und Einschränkungen kontinuierlich erzeugt.

Narrenfreiheit, Vogelfreiheit

Hema Hema Sing Me a Song While I Wait 4

Eines solchen Ventils bedarf anscheinend auch „Der Ausdruckslose“ – ein Mann, dessen Namen wir in Hema Hema: Sing Me a Song While I Wait konsequenterweise nie erfahren. Auch sonst wissen wir kaum etwas über ihn: Er steht plötzlich einfach da, auf einer Wiese in den Bergen Bhutans, zieht sich eine Maske über, bläst in eine Pfeife und wartet, bis mehrere Männer ihn umzingeln, einen Sack über seinen Kopf stülpen und ihn zu einem Lager tief im Wald führen. Er ist zum ersten Mal Gast bei einem alle zwölf Jahre stattfindenden, karnevalesken Ritual, und so muss er, genau wie der Zuschauer, diese bunte Welt zunächst einmal erkunden. Zwischen Vollmond und Neumond zelebrieren ein paar hundert Auserwählte mit Theater, Tanz und Masken eine Art spirituelle Neugeburt, die mit der Loslösung von gesellschaftlichen Fesseln einhergeht. Der Zeremonienmeister beschwört in seinen Reden die Freiheit und stellt die rhetorische Frage: „Was würdest du tun, wenn du anonym wärest?“ Die Antwort fällt in vielen Fällen wenig überraschend aus: In und vor den Zelten wird kräftig gesoffen und gevögelt. Die Eudaimonie hatten sich die Autoren der bhutanischen Verfassung wohl etwas weniger hedonistisch vorgestellt, als sie das Glück zum Staatsziel erklärten.

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Doch die Macht des Gesetzes reicht ohnehin nicht bis in diesen Wald. Die Teilnehmer bewegen sich in einem rechtsfreien Raum: What happens here, stays here. Selbst als eine Frau vergewaltigt und ein Mann ermordet wird, geht das Spiel weiter – der Ritus ist größer als das Individuum. Die vermeintliche Befreiung von den Zwängen der Zivilisation entpuppt sich rasch als Illusion: Die staatlichen Gesetze mögen hier nicht gelten, Regeln gibt es aber sehr wohl: Schon wegen kleiner Vergehen schlagen die omnipräsenten Wachen Gäste brutal zusammen, stecken sie in ein behelfsmäßiges Gefängnis oder demaskieren sie vor allen anderen. „Wir können dich auch einfach verschwinden lassen“, drohen sie einmal, „es wird nie jemand etwas über dich erfahren.“ Die paradiesische Utopie verkehrt sich zur Hölle. Die Teilnehmer merken, dass ihre Masken neue Identitäten stiften, statt einfach nur die alten zu verschleiern – und die täuschend starre Mimik der Masken erweist sich als veritable Gefahr, macht sie doch den Gemütszustand und damit auch die Intentionen des Trägers unberechenbar.

Maskenball, Karneval

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Hema Hema: Sing Me a Song While I Wait wird vermutlich keinen Drehbuchpreis gewinnen. Nachdem sich der Film langsam zu einem Thriller entwickelt und Tempo aufgenommen hat, bricht Regisseur Khyentse Norbu die Handlung abrupt ab, springt 24 Jahre vorwärts, befasst sich ebenso kurz wie oberflächlich mit dem Gewissen des Mörders und seinem Wunsch nach Buße, um dann zu einem unbefriedigenden, bemüht mysteriösen Ende zu finden. Doch der Weg ist hier wichtiger als das Ziel, die Form entscheidender als der Inhalt: In Hema Hema wird – zum Glück – relativ wenig gesprochen, der Film funktioniert primär über die Sinnlichkeit seiner Bilder. So wie in Victoria (2015) der Kameramann und in Blind und hässlich (2017) das Schnitt-Team der Star ist, so wird dieser Film in erster Linie von Jamyang Chodens brillantem Kostümdesign getragen. Die zahllosen gruselig-grotesken Masken, die Menschen, Vögel, Rinder, Teufel und mystische Fantasiewesen zeigen, sind eine nie versiegende Quelle wohliger Angstlust. Die traditionellen Gewänder und der urtümliche Wald stellen einen großartigen Kontrast zum überraschenden Elektroklub-im-Neonlicht-Milieu dar, in dem der Film beginnt und endet. Und das Casting von Tshering Dorji als Hauptdarsteller multipliziert solche Irritationen noch, da ein riesiger, verstörend haariger Leberfleck seinen Hals ziert, der leider nicht von der Maske bedeckt wird.

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Mit seiner visuellen Opulenz und der surreal-(alb)traumartigen Atmosphäre gesellt sich Hema Hema zu einer Reihe von düsteren Filmen, in denen Menschen unter dem Schutz von Masken rituelle Opferungen vollziehen und dabei ethische Grenzen überschreiten: The Wicker Man (1973) etwa, Eyes Wide Shut (1999) oder The Fifth Season (La cinquième saison, 2012). Interessanterweise bricht das Unheil hier erst über die Menschen herein, als eine Figur verbotenerweise ihre Maske wechselt, so die ihr zugewiesene Identität heimlich abstreift und die mit ihr Feiernden täuscht. Die Gesetze der Alltagswelt mag der Ausnahmezustand außer Kraft setzen, doch seine eigenen Regeln können nur unter Strafe hintergangen werden. Der Karneval ist schließlich kein Spaß, sondern heiliger Ernst.

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