Harvest – Kritik

Neu auf MUBI: Harvest erzählt von der Ankunft des Kapitalismus in einem mittelalterlichen englischen Dorf. Die traumwandlerische Parabel verbindet ein sinnliches Verhältnis zur Natur mit der harten Einsicht, dass Fortschritt meist nur ein Vorwand für Unterdrückung ist.

Der Fortschritt blökt. In einem namenlosen Dorf im mittelalterlichen England übernimmt ein neuer Gutsherr die Aufsicht über das umliegende Land. Was bislang Ackerland war, mit dessen Ertrag sich die Gemeinschaft der Bauern selbst versorgte, soll nun Weideland für Schafe werden und das Dorf soll sich in eine Produktionsstätte für Wolle verwandeln, die Überschüsse erwirtschaftet. Für die Menschen des Dorfes ist es eine tiefe Zäsur, stellt es doch nicht weniger infrage als ihren Bezug zu Natur und Land. So erzählt die Regisseurin Athina Rachel Tsangari in ihrem neuesten Film Harvest von der Ankunft des Frühkapitalismus und von den Möglichkeiten, sich dagegen zur Wehr zu setzen.

Bis es zu dieser Umwälzung kommt, lässt der Film sich jedoch Zeit. Der Zuschauer folgt zunächst Walter Thirsk, gespielt von Caleb Landry Jones, wie er durch das satte Grün der Landschaft wandert. Es sind stille Minuten, in denen die Kamera sich an den Formen und Farben der Natur gar nicht sattsehen kann. Diese Szene etablieren einen ganz bestimmten Kamerablick, in dem sich das grundlegende ästhetische Programm von Harvest äußert: So landschaftsverliebt diese Bilder sind, so wenig klären sie uns über die Geografie des Ortes auf. Sie haben ein Verhältnis dazu, wie grün die Wiesen sind, wie klar der See, aber wie man in diesem Raum von A nach B gelangt, bleibt bis zum Schluss unklar.

Zwischen Bruegel und „Summer of Love“

Walter ist einer der bäuerlich lebenden Dorfbewohner. Der bisherige Gutsherr Master Kent (Harry Melling) ist seit dem Tod seiner Frau der Melancholie anheimgefallen und lässt seine Untertanen weitgehend in Frieden. Walter und Kent sind befreundet, was Walter eine Sonderstellung innerhalb der Gemeinschaft gibt und ihn zugleich in eine Außenseiterrolle drängt. Es ist ein einfaches Leben im Dorf, ein hartes obendrein, was man den verhärmten Gesichtern und abgewetzten Kleidern der Bauern ansieht. So hart die Verhältnisse sind, so rau auch die Bildästhetik, der sich Harvest bedient: Das grobe Korn, aus dem diese filmische Welt besteht, öffnet mal Assoziationen zu historischen „Summer of Love“-Aufnahmen, mal fühlt man sich, als wäre man in ein Bruegel-Gemälde geraten. Die Aufgerautheit des Materials gibt dem Film die Möglichkeit, spielend zwischen Verklärung und Verhärtung des Bildes zu changieren.

Zunächst wirkt es, als hätte dieses Dorfleben noch ewig auf die einstudierte Weise weitergehen können – doch dann kündigen sich nach und nach Veränderungen an. Als Erstes über die Ankunft von Fremden: Eine verdächtige Dreiergruppe wird von den Bewohnern festgenommen, sie werden beschuldigt, eine Scheune angezündet zu haben. Parallel dazu stromert ein Landvermesser durch die Gegend und macht sich daran, das Gebiet kartographisch zu erfassen. Die Karte stellt den ideologischen Gegenentwurf zum Blick der Dorfbewohner (und der Kamera) auf die Natur dar: Sie ordnet, entfremdet und kapitalisiert den Zugriff auf die Natur. Sie macht aus einer Landschaft, in der man wohnt, eine Landschaft, die man besitzen kann.

Ein gewaltsames Chaos, stoisch betrachtet

Dramaturgisch wechselt der Film ab der Hälfte das Tempo: Master Kent wird als Gutsherr abgesetzt, weil der Erbanspruch bei der Stammeslinie seiner verstorbenen Frau lag, und ihr Cousin Edmund Jordan schwingt sich auf, das Land, das nun ihm gehört, auf den Weg des maximalen Profits zu schicken. In der Folge kommt es zu einer eskalierenden Auseinandersetzung zwischen ihm und den Dorfbewohnern. Inmitten dieses gewaltsamen Chaos spielt Caleb Landry Jones seinen Walter als einen zwischen Lakonie und Stoizismus wandelnden teilnahmslosen Teilnehmenden, der zu den dramatischen Ereignissen auf Abstand geht und sich in seine innere Burg zurückzieht. Auf den verheißungsvollen Satz „You’ll never need to plow again“ antwortet er schlicht: „To this I say: I will defend the coming spring“ und pflügt weiter sein Feld. Er ist auch der die einzige Figur aus der Dorfgemeinschaft, die eine individuelle Gestalt erhält. Der Rest des Dorfes ist eine Figurengemeinschaft, in Gesellschaftsbildern angeordnet.

Der epochale Umbruch ist in Wolle gepackt

Tsangaris Parabel auf die Ankunft des Frühkapitalismus führt uns in keine Fabrik, in keine Silberminen und auch nicht in den Bauch großer Dampfmaschinen. Stattdessen sind es Schafe, die die Profitlogik ins Dorf tragen. Der Epochenumbruch ist in Wolle gepackt und trotzdem nicht minder epochal für die Menschen, die er betrifft. Es ist bemerkenswert, wie die Regisseurin es schafft, einen Stoff, der leicht auch ins Lächerliche rutschen könnte, mit einer nachvollziehbaren Ernsthaftigkeit zu erzählen. Der Parabelform ist es jedoch auch geschuldet, dass die gezeigten Gegensätze kontrastgesättigt dargestellt werden: Die Ankunft der Moderne als reinen Abwehrkampf darzustellen, verkitscht den angeblichen Urzustand des Dorfes und das harmonische Verhältnis, das seine Bewohner zur Natur haben. Dass Harvest als Ganzes dennoch gelingt, liegt daran, dass der Film eine tiefere Wahrheit verinnerlicht hat: Fortschritt, der als Machtdemonstration von oben kommt, ist für die Betroffenen eine Form der Gewalt. Für diese traumatische Erfahrung findet Tsangaris Film eine nachvollzieh- und nachfühlbare Form. Das Blöken der Schafe, das den Film durchzieht, ist auch in unseren Gesellschaften zu hören.

Den Film kann man bei MUBI streamen. 

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