Haltlos – Kritik
Überlebensgroße Gefühle werfen Martha hin und her, manchmal gleichzeitig in beide Richtungen, sodass es sie zerrreißt. Kida Khodr Ramadans Haltlos ist eine kaputte, kleine Ballade mit einer schwebend spielenden Lilith Stangenberg.
Ich hatte so eine Schulfreundin. Sie war ähnlich hübsch, und viele Jungen wollten mit ihr gehen, weil sie scheinbar locker war und lustig und gern feierte. Aber sie hatte keinen Halt. Als alles zu viel wurde, hatte sie nichts, was die tobende Emotionalität in ihr bewältigen konnte. Manchmal sehe ich gequälte Seelenverwandte von ihr durch die Straßen laufen und jeden und alles, auch Betäubungsmittel, anflehen: Kann ich nicht bei dir bleiben? Kannst du mir nicht helfen? So ist auch Martha aus Kida Kodhr Ramadans neuem Film.
Wackelig und weltfremd

Man weiß nicht, warum andere Leute ihre Leben scheinbar weniger tragisch hinbekommen und immer wieder einen so undramatisch-intakten Alltag erzeugen können. Frappierend normale Gespräche wehen in Marthas Wahrnehmung, wenn sie auf ihrem Leidensweg an solchen Leuten in Berlin vorbeikommt, auf dem Amt, der Straße, vor einem neuen, weißen Eigenheim. Während in ihr so oft die Hölle los ist. Sie versucht, sich die Diskrepanz damit zu erklären, dass Wasser ja auch einmal leicht und ruhig fließen und woanders wild werden und alles zerschmettern kann.
Lilith Stangenbergs schwebendes, von viel Unsichtbarem getragenes Schauspiel bringt einem sehr nah, wie wackelig und weltfremd sich dieses Mädchen fühlt. Wie alles ihr zu nahe geht und überlebensgroße Gefühle sie hin und her werfen. Manchmal gleichzeitig in beide Richtungen, sodass es sie zerrreißt.

„Das war mein Leben“, sagt der Titel auf einem Bruce-Lee-Poster in Marthas Zimmer, wo sie manchmal nackt in ihrem Korbstuhl sitzt wie die Frau auf dem berühmten Emmanuelle-Filmposter. Oder zusammengefaltet auf ihrem Geliebten (Samuel Schneider) hockt. Undinenhaft, mit langen Haaren, langen Armen, langen Beinen. Sehr schön – und selten so in Filmen zu sehen – das zärtlich-sinnliche, verspielte, lustige und glückselige Miteinander. Eine Brust heißt Cola, die andere Cola Zero. „Erzähl doch mal was von früher, als du ein Kind warst. Hattest du ne Bande? Bist du müde? Oder kannste noch mal?“ (Drehbuch Antje Schall)
Ich mag das Stilmittel der hintereinander gereihten Schnitte auf Gesichter von Leuten, wenn sie Martha ansehen (Kamera: Stéphane Kuthy, Schnitt: Anja Neraal). Jeder ein eigenes, lebendes, komplexes Rätsel, ein Unikat, das aus seiner eigenen Welt herausschaut. Martha wird das schnell zu viel.
Hochkonzentrierte Verzweiflung

Aber nicht wenige sind nett und aufmunternd zu ihr. Der Kioskbesitzer singt für sie ein Lied in seiner Heimatsprache und bringt sie zum Lachen. Ihr Geliebter ist aufrichtig von ihrem Zusammensein hingerissen und tut sein Bestes. Ihre Freundin (Susana AbdulMajid) widmet sich ihr mit kraftvoller Intensität. Die Mama ist zwar ätzend – streng, nervös und dominant, fast im Stil der 1950er Jahre –, aber die Schwester merkt, wenn das zu viel wird, und vermittelt. Den Papa kann man leider vergessen. Auch der Chef ist ein Egotripper und traut Martha nichts zu. Aber als sie in der U-Bahn zusammenbricht, kommt ihr sofort eine Passantin zur Hilfe. Auch der Adoptionssachbearbeiter ist meist väterlich und warmherzig.
Diese anderen sind für Martha Anlaufstellen für Rat und Hilfe, auch wenn das nicht immer reibungslos und verlässlich funktioniert. Oft weist sie sie sogar gereizt zurück, weil sie sich eingeengt fühlt. Aber sie entschuldigt sich sofort und gibt allen recht, bis zum nächsten Mal. Der Typ aus Mike Leighs Naked (1998) fällt mir ein. Eine ähnliche hochkonzentrierte, unergründliche Verzweiflung. Obwohl, er war herzloser und weniger das „Opfer“. Das mit der „Opfer“-Haltung stimmt ja leider auch. Martha ist sich dessen bewusst und will da raus.
Kois mit trauriger Miene

Aber das mit dem ungewollten Schwangersein ist eine Scheißsituation, die jeden überfordert. Martha hat Angst, deswegen eine schlechte Mutter zu werden. Zumal auch ihre eigene Mama findet, sie sei „egoistisch“. Sie ist selber wie ein kleines Mädchen, das nicht aufhören kann, zu weinen in dieser Lage, vor Aufruhr und Konflikten mit dem Dasein, der Seele, dem Körper. Sie fühlt sich schuldig, weil sie die schreienden Bedürfnisse ihres auf die Welt gefallenen kleinen Häwelmanns immer nur so kurz beruhigen und stillen kann. Aber so was ist doch auch schwer.
Elsa heißt das kleine Mädchen, und sie liebt es. Wie mit seinem Vater, so ist Martha auch mit ihrem Kind, wo es um intime Zweisamkeit und körperliche Nähe geht, in ihrem Element. Sie wird ein anderer Mensch. Küsst die knubbeligen kleinen Hände glücklich, zärtlich und behutsam.

Manchmal schaut sie Tieren in Aquarien zu: Kois mit trauriger Miene. Quallen, so transparent und leicht, als würden sie grad erst aus dem Wasser entstehen und wären noch nicht richtig da, wie Embryos. Sie sieht sich selbst in ihnen. „Ich bin dazu verdammt, meine ausweglosen Kreise zu ziehen, die mich in den Abgrund führen“, singt sie im Off, mit hauchender, kleiner, an Jane Birkin erinnernder Stimme. Die Musik ist mit Bedacht eingesetzt in diesem sowieso sehr liebevoll gemachten Film. Immer wieder krümelige Bruchstücke von Chansons, komponiert von Brezel Göring (Stereo Total) - filigrane, brüchig-romantische Sounds wie von singenden Sägen und anderen überstrapazierten Dingen. Der ganze Film ist Marthas Lied. Eine kaputte, kleine Ballade um ein Gemüt, das für sein Leben zu wild bewegt und schwach und seltsam ist. Und einem ans Herz wächst.
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