Grand Tour – Kritik
Neu bei MUBI: Eine Flucht durch Südostasien und eine Liebe, die nie Wirklichkeit wird. Miguel Gomes’ Grand Tour vermischt Fiktion und Dokumentation, Vergangenheit und Gegenwart, Melodram und Reisebericht. Poetisch wie verspielt, gibt sich der Film ganz dem offenen Erzählen hin.

Der Filmkritiker Brandon Nowalk bezeichnete 2015 die Arabian-Nights-Trilogie von Miguel Gomes als „blind man’s elephant“ – also als ein Gebilde, das gänzlich andere Formen annimmt, je nachdem, aus welcher Richtung man sich ihm nähert. Ein Vergleich, der durchaus auch auf den neuen Film des portugiesischen Regisseurs zutrifft: Ist Grand Tour (2025) nun Fiktion oder Dokumentation, märchenhaftes Melodram oder neugieriger Reisebericht? Die Antwort ist: Alles und doch nichts davon. Die einzelnen Aspekte des Films stehen für sich und wollen sich – weder inhaltlich noch sinnlich – ineinanderfügen. Und doch ergibt der Genre-, Stil- und Epochenhybrid ein überraschend harmonisches und kunstvolles Ganzes.
Romantische Aufholjagd
Auf einem indischen Jahrmarkt tummeln sich Kinder auf einem mit Muskelkraft betriebenen Riesenrad. Mit halsbrecherischer Energie springen die Schausteller auf und klammern sich – teils kopfüber – an das Rad, um dann im richtigen Moment abzuspringen und dem Gerät so seinen Schwung zu geben. Es sind kleine akrobatische Kunststücke, wenn nicht gar ein Tanz, während eine körperlose Stimme eine Geschichte anstimmt, die so gar nicht in die dargestellte Zeit passen möchte:

Wir schreiben das Jahr 1918; Edward (Goncalo Waddington) und Molly (Crista Alfaiate) sind seit sieben Jahren verlobt, doch wurden sie bislang durch seine Arbeit getrennt. Edward ist als Diplomat im indischen Manderley stationiert; Molly ist in England geblieben. Doch nun erwartet Edward am Hafen der Stadt seine Verlobte, um sie endlich zu heiraten. Doch plötzlich, als der nachdenkliche Diplomat ein Telegramm mit der Ankündigung von Mollys baldiger Ankunft erhält, macht er auf dem Absatz kehrt und bucht am Ticketschalter eine Fahrkarte fort aus Manderley. Liebt er Molly nicht mehr? Hat er kalte Füße bekommen? An eindeutigen Erklärungen ist der Film nicht allzu interessiert, viel mehr jedoch an dem inneren Drang, zu fliehen – ein Drang, den manche als Wanderlust bezeichnen würden, andere als Selbstflucht.
An seiner Oberfläche folgt Grand Tour den Bahnen eines klassischen Melodrams, besiedelt von verschrobenen Charakteren mit Namen wie „Mister Sanders“ oder „Lady Dragon“. Gedreht auf weichem Schwarz-Weiß-Analogfilm, erschaffen die Spielszenen klassische Bilderwelten, bei denen es nicht verwundern würde, wenn plötzlich eine junge Bette Davis aus den Bambussträuchern hervortreten würde. Diese Momente machen jedoch nur einen Teil des Films aus, werden sie doch immer wieder mit dokumentarischen Reiseaufnahmen gegengeschnitten, während ein Voice-Over den Fortgang der Handlung beschreibt. Auf seiner Reise stößt Edward in Bangkok auf einen Prinzen, betrinkt sich in Shanghai, wird im chinesischen Bambuswald ausgeraubt und versteckt sich in Japan bei asketischen Mönchen, ehe ihn der lokale Geheimdienst des Landes verweist. Doch wo er auch ankommt, stets erreicht ihn umgehend ein Telegramm mit der Nachricht, dass die willensstarke Molly ihm direkt auf den Fersen ist, felsenfest darauf aus, ihn gleich morgen zu heiraten.
Freies Spiel mit Gegensätzen

Das Spiel mit Anachronismen ist der grundlegende Modus Operandi des Films, was sich auch in seiner faszinierenden Entstehungsgeschichte begründet: Einen großen Teil des dokumentarischen Materials drehte Gomes bereits 2020 auf Farbfilm in Südostasien; die fiktiven Szenen realisierte er während der COVID-Pandemie auf einer Soundstage in Portugal. Zusätzliches dokumentarisches Material drehte dann später ein Kamerateam an den Originalschauplätzen der Handlung, wie etwa Chengdu oder Shanghai, während Gomes per Videochat Regie führte. Die Aufteilung zwischen farbigen Dokumentaraufnahmen und monochromen Spielsegmenten wird jedoch auch nicht ganz konsequent durchgehalten. Regeln sind – auf dieser wie auch auf anderen Ebenen des Films – nur da, um gebrochen zu werden.
Auch sprachlich zeigt sich in Grand Tour Gomes’ grundlegende Verspieltheit. Je nachdem, in welchem Land sich Edward und Molly gerade befinden, wechselt die Erzählstimme in die lokale Sprache. In den Spielszenen wiederum sprechen alle Figuren, ob sie nun aus Yorkshire oder Siam stammen, fließend portugiesisch. Ein Kniff, der sich als augenzwinkernder Kommentar auf die Sehgewohnheiten des Publikums lesen lässt – haben doch zum Beispiel noch kürzlich in Ron Howards Eden (2025) alle deutschen Siedler in fließendem Englisch miteinander kommuniziert (wenn auch mit wabbeligem Hans-Gruber-Akzent).
Grand Tour verschränkt das Hier mit dem Dort, Gegenwart mit Vergangenheit, Fiktion mit Realität. Das Ergebnis ist weniger eine eindeutige historische oder politische These, sondern vielmehr eine offene Einladung an das Publikum, eigene Assoziationen zu dem Wahrgenommenen herzustellen. Wenn die Erzählstimme von Edwards Eskapaden in den Spelunken von Shanghai erzählt, blicken wir auf die berühmten Wolkenkratzer der Metropole. Dabei beginnen wir zum einen, auf den Oberflächen der Gegenwart nach den Spuren der Vergangenheit zu suchen, und zum anderen, die Orte, die wir betrachten, mit mystischer Bedeutung aufzuladen; es sind ebenjene Gedankenspiele, auf die sich Reisende einlassen. Die Voice-Overs in den Lokalsprachen verstärken dabei den Eindruck, als wären Edward und Mollie mitsamt ihrer Geschichte längst in die jeweilige lokale Folklore eingegangen.
Ein audiovisuelles Gedicht

Gewisse konstante Interessen sind in den Film dennoch erkennbar, wie etwa Gomes’ Faszination für das Puppenspiel. Ob Schattenspiele in Indien oder ein Marionettentheater in Thailand – Gomes zeigt ein Interesse für unterschiedliche Erzähltraditionen und wie sie Zeit und Raum übertretend ein Maß an Universalität entwickeln. Immer wieder zeigt das dokumentarische Material außerdem Menschen beim Karaoke, das ja tief in der südostasiatischen Popkultur verankert ist. In einem der berührendsten Momente des Films sehen wir zum Beispiel einen älteren Mann, der in einem Imbiss mit Inbrunst „My Way“ von Frank Sinatra ins Mikrofon singt. Am Ende wischt er sich noch die Tränen aus dem Gesicht und wendet sich dann wieder seiner Nudelsuppe zu.
“Ich habe Angst, mich selbst zu verlieren”, sagt Molly an einer Stelle zu Lady Dragon (die ihren Namen aufgrund ihrer Rauchgewohnheiten bekommen hat). Molly, die im Gegensatz zu ihrem Verlobten gesprächig und lebensbejahend ist, wird von einem mit jedem Tag wachsenden Zweifel ergriffen: Ist ihr Glaube an die Liebe nicht doch eine Nebelkerze? Die Lady zuckt aber nur mit den Schultern: „Es ist befreiend, die eigenen Überzeugungen aufzugeben.“ Und so lädt auch Grand Tour dazu ein, die eigenen Erwartungen und Sehgewohnheiten für einen Moment loszulassen. Dabei kann der Film beizeiten auch ein wenig auf die Nerven gehen – je nach Geschmack können entweder die meditativen Reiseaufnahmen den Fluss der Handlung stören oder eben anders herum. Die grundlegende formale Freiheit bewirkt, dass Grand Tour sich niemals nur einem bestimmten Register verschreibt. Dadurch bekommt der Film die Form eines audiovisuellen Gedichts, das so stimulierend wie flüchtig ist.
Den Film kann man bei MUBI streamen.
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