Goddess of the Fireflies – Kritik

Anaïs Barbeau-Lavalette sammelt die Moralwerte ein und schwingt die Schaukeule: Goddess of the Fireflies ist Mid90s auf Meskalin.

Schlussbilder: Eine Familie steht im Wald, steht im Regen. Klammert sich aneinander, als sie sich nicht mehr anschreit. Der Vater türmt über dem Mutter-Tochter-Knäuel, reißt an seiner Kapuze herum, tut alles, um mit seinem gelben Regencape nicht nur sich, sondern auch die Familie zu schützen, endlich shelter in the storm zu sein. Was er nicht checkt: Die Tochter hat ein eigenes gelbes Regencape um.

So viel Ignoranz wird mit einem Schnitt bestraft: Jugendliche auf einer Wiese, Catherine (Kelly Depeault), das Mädchen, unter ihnen. Rennen, kämpfen, umarmen. Von der Familienaufstellung zum Cliquenbewegtbild. Dann geht’s in den Abspann. „Ein Film von“ steht da in der Mitte der Leinwand, und um diese Schrift herum ergeben sich die Namen des Ensembles zum Wimmelbild. Das letzte Bild auf der Wiese sei nicht beim Dreh, sondern bei den Proben entstanden, erzählt der einzige noch in Berlin verbliebene Darsteller von Goddess of the Fireflies nach dem Screening. Da verlasse ich dann endgültig den Saal, den ich vor zwei Stunden spontan und ahnungslos betreten habe, beseelter werde ich heute nicht mehr.

Die Welt ist schön

Vor diesen Schlussbildern: Coming of Age, mit ordentlich Meskalin. Nach dem ersten Mal Ziehen prahlt Catherine vor ihrer uncoolen Noch-Freundin, sie habe fast nichts gemerkt von der Wirkung – aber das war auch nur Backpulver, feixt die coole Noch-nicht-Freundin. Irgendwann ist Catherine dann aber wirklich druff, und die Welt ist schön. Sie klaut Intimfeindin Mélanie (Marine Johnson) den süßen Pascal (Antoine Desrochers), freundet sich mit der obercoolen Marie (Éléonore Loiselle) an, beginnt sich für den geheimnisvoll schüchternen Kevin (Robin L’Houmeau) zu interessieren und enttäuscht präzise und immer wieder aufs Neue ihre mittlerweile getrennt lebenden Eltern.

Kelly Depeault ist krass in diesem Film, Jonathan Decostes Kamera kann nicht genug von ihr kriegen, sucht ständig nach neuen Winkeln, Einstellungsgrößen, Schärfen, um auch wirklich jeden von ihr ausgehenden Affekt irgendwie zu Kino zu machen. In jedem Moment ist Depeault da, extreme Emotionen, Schreien und Würgen, Sex and Drugs, immer mutig und verletzlich zugleich, und nebenbei wird sie durch den Film hindurch allmählich eine andere, selbstbewusster, fieser, extremer, aber auch irgendwie erwachsen.

Drogensucht und Lebenstrunkenheit

Goddess of the Fireflies spielt in den 1990ern, als die Jugend noch ganz ohne Smartphones rumhing, kiffte und sich ins Koma soff. Aber dies ist kein Skater-Film aus Kalifornien, sondern ein Grunge-Film aus Quebec: Die kanadische Regisseurin Anaïs Barbeau-Lavalette hat dafür den gleichnamigen Roman von Geneviève Pettersen adaptiert. Ein bisschen kommt einem das Ergebnis manchmal vor wie ein Wiedergänger der Juvenile-Delinquency-B-Movies aus den 1950ern, in denen eine Texttafel zu Beginn den pädagogischen Wert jener skandalösen Bilder ankündigte, die ein jugendliches und zunehmend kaufkräftiges Publikum dann doch ordentlich genießen konnte: Moralkeulen mit ordentlich Schauwerten. Goddess of the Fireflies ist eine einzige Schaukeule mit wenig Moralwert.

Das heißt nicht, dass Goddess of the Fireflies naiv das life on drugs propagiert, nur ist der Film eben erstmal Übersetzer und entschuldigt sich für nichts. Keine Standpauke, kein Besuch eines befreundeten Polizisten, nicht Mélanies Überdosis kann Catherine weg von der Droge bringen und diesen Film weg von der Lebenstrunkenheit seiner Protagonistin. Und Catherine übertreibt’s, ihre Energie ist egoistisch, ihre Erfahrungsgeilheit gewaltvoll. Einem Rebhuhn wird der Kopf zertreten, die bewusstlose Mélanie aus Angst vor den Cops einfach vors Hospital geworfen, sie überlebt gerade so und spielt danach keine Rolle mehr.

Das eingerissene Denkmal des Exzesses

Alles kulminiert in einer irrwitzigen Szene, in der eine wilde Party- zur erhabenen Opernszene wird: Catherine auf Drogen, in Zeitlupe, mit Pelzmantel und nix drunter, die Techno-Mucke verabschiedet sich für die Arie kurz vom (durchweg großartigen) Soundtrack, das dem Exzess gesetzte Denkmal wird schon bald eingerissen, als Catherines Eltern die Party stürmen, die damsel in distress auf die Schultern nehmen, sie befreien aus den Fängen der Drogenhölle und ins Auto schmeißen. Hier knallen die beiden Prinzipien des Films nochmal knallhart aufeinander: Catherines Musik-Meskalin-Welt einmal romantisiert, einmal skandalisiert, und das Leben liegt irgendwo dazwischen.

Wenn es einen Punkt gibt, den der Film letztlich nach Hause bringt: dass elterliche Warnungen schon allein deshalb ins Leere laufen müssen, damit die aus eigener Erfahrung gespeisten überhaupt erst Resonanz erfahren. Denn niemand hat behauptet, Catherine sei unbelehrbar. Es wird ein Unglück geben in Goddess of the Fireflies, dieses Unglück wird Catherine vielleicht nicht erwachsen machen, aber wachsen lassen. Das berührt. Aber die Eltern sagen nur siehst-du und bleiben blind, denn die Tochter, die sie jetzt wieder in ihrem Schutzraum aufnehmen, hat ja längst ein eigenes Regencape.

Zurück auf Anfang

Anfangsbilder: Catherine hat Geburtstag, bekommt von ihrer Mutter einen Discman und Christiane F. geschenkt, vom Vater ganz beiläufig einen Scheck über 1000 Dollar überreicht. Die Tochter kann ihr Glück nicht fassen und fällt dem Vater um den Hals, die Mutter kann’s nicht fassen und geht auf ihren Mann los. Goddess of the Fireflies ist schon in dieser grandiosen Eröffnungssequenz vollständig obduziert: Musik, ein Drogenbuch, genügend Geld und familiäre Dysfunktion sind da, es kann losgehen.

Und weil alles ein bisschen drüber ist in diesem Film, bleibt die Szene nicht beim elterlichen Streit, sondern endet in einer veritablen Schlägerei, vor der der Vater schließlich mit einem Auto fliehen will, das sich nach einer Karambolage mit dem Einfahrtstor gleich mal überschlägt. Catherine steht auf der Veranda, blickt so schockiert wie belustigt auf den privaten Bürgerkrieg hinab, auf diese Eltern, die schon kaputter sind, als sie selbst es jemals werden kann, und ein paar digitale Glühwürmchen erleuchten die Leinwand, formieren sich vor ihrem Konterfei zum Filmtitel, der im französischen Original von der gleichen barocken Eleganz ist wie alles, was wir gleich sehen werden: La déesse des mouches à feu.

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