Gloria Mundi – Rückkehr nach Marseille – Kritik
VoD: Vom Dienstleistungsprekariat im unwirtlichen Marseille. Gloria Mundi ist ein Abgesang auf die gelebte Solidarität unter Arbeitern. Die Hoffnung auf ein besseres Leben manifestiert sich in einer majestätischen Geburt.

Voller Anmut und Hoffnung beginnt dieser finstere Film: Zum Verdi-Requiem wird ein Kind geboren. Hände helfen ihm aus dem Mutterleib, entwirren die Nabelschnur, legen es auf die Brust der Mutter. Dann ergießt sich ein Wasserstrahl über das verschmierte Wesen, spült die Strapazen der Geburt weg. Die Waschszene strahlt Ästhetik und Würde einer Taufe aus: Hier wird jemand mit höchsten Ehren in den Bund der Menschen aufgenommen. Doch die Würde währt nicht: Weiße Lettern werden auf schwarzem Hintergrund eingeblendet, „Sic transit gloria mundi“, „So vergeht der Ruhm der Welt“. Auf dem rosig-reinen, kaum geborenen Baby, das auf den verheißungsvollen Namen Gloria hören wird, lastet plötzlich die Vorahnung einer gebeutelten Existenz.
Alles Cash

Zeitgleich mit Gloria tritt eine weitere Person in das Familiengefüge: Daniel (Gérard Meylan), ihr Großvater, der kurz nach ihrer Geburt aus der Haft entlassen wird. Glorias Mutter Mathilda (Anaïs Demoustier) ist seine Tochter, sie ist ohne ihn aufgewachsen. Mit Gloria und Daniel schickt Guédiguian zwei Fremdkörper in das Familiengefüge, die eine unterschiedliche Funktion erfüllen, aber zur selben, bitteren Erkenntnis führen werden. In Gloria manifestiert sich die Hoffnung auf ein besseres Leben, mit ihrer majestätischen Geburt fordert sie geradezu das Recht auf eine würdige Existenz ein; mit Daniel dagegen, der eine Generation lang vom gesellschaftlichen Leben abgeschnitten war, gleicht Guédiguian alte Hoffnungen ab mit der Welt, die Daniel nun vorfindet.

Es ist eine feindliche, unwirtliche Welt. Gloria Mundi spielt in Marseille. Immer wieder verharrt die Kamera auf Bürotürmen, deren Fenster nachts in unaufhaltsamer Geschäftigkeit aufleuchten und die sich über den Dreck der Stadt und die wuselnde Misere erheben. Ihren präzisesten Ausdruck findet diese Welt im erbarmungslosen Geschäft, das Mathildas Halbschwester Aurore (Lola Naymark) und ihr Freund Bruno (Grégoire Leprince-Ringuet) erfolgreich betreiben: Bei „Tout Cash“ („Alles Cash“) kaufen sie zu Ramschpreisen und genüsslich herablassend das Hab und Gut von Armen auf, die es aus der Not heraus verkaufen, Toaster, Radiowecker, Handtaschen; zu „Tout Cash“ gehört eine Reparaturwerkstatt, in der Bruno nur Schwarzarbeit anbietet.
Abgesang auf die Solidarität

In Gloria Mundi hat das Dienstleistungsprekariat die Fabrikarbeiter abgelöst: Mathilda arbeitet als Verkäuferin, wird aber immer zum Ende der Probezeit entlassen; ihre Mutter Sylvie (Ariane Ascaride) arbeitet nachts als Putzfrau, ihr Mann Richard (Jean-Pierre Darroussin), Mathildas Stiefvater, ist Busfahrer. Nico (Robinson Stévenin), Mathildas Mann, ist seit Kurzem Uber-Fahrer, verdient aber kaum etwas, weil er noch den Wagen abbezahlt. Noch haben sie Hoffnung, noch schwärmt Nico vom Glück, der eigene Chef zu sein, noch glaubt Mathilda, dass ihre Schwester ihr die Leitung der neuen „Tout Cash“-Filiale überlässt. Sie schlagen sich durch, sie wollen es schaffen, und in Gloria findet dieses Streben einen Lichtblick.

Diese Welt ist härter als in anderen Filmen von Robert Guédiguian. Nicht weil die Ungerechtigkeit sich verschärft hat, weil Wohlstand in noch weitere Ferne gerückt ist, sondern weil die Solidarität verloren gegangen ist. Gloria Mundi ist ein Abgesang auf das, was Guédiguian so oft in seinen Filmen gefeiert hat: kleinere Kollektive – die Familie, die Nachbarschaft, der Freundeskreis – und die Solidarität, die darin gelebt wird, als Korrektiv und Gegenentwurf zur Gesamtgesellschaft, die nur Gier, Konkurrenz und Ausbeutung kennt. In Daniel findet Guédiguian ein Alter Ego, das befremdet auf die heutigen Verhältnisse schaut, darauf, wie die Logik des Kapitalismus sich zwischen diejenigen drängt, die Seite an Seite kämpfen könnten.
Generationenbruch

Gloria Mundi ist die Geschichte eines Bruchs zwischen den Generationen. In diesem Film sind es die Jungen, die dem generalisierten Konkurrenzgedanken anheimfallen und sich gegenseitig sabotieren. Das meiste Befremden rufen Aurore und Bruno mit „Tout Cash“ hervor. „Seilerster“ wolle er sein, sagt Bruno in Anspielung auf den französischen Staatspräsidenten Emmanuel Macron, der 2017 mit diesem Ausdruck ein Bild der Gesellschaft zeichnete, in dem Seilerste – Kletterer, die vorsteigen – die anderen „mitziehen“. Bruno und Aurore aber ziehen niemanden mit, sie treten nach unten, um sich selbst nach oben zu hieven, ähnlich den Taxifahrern, die Nico, den Uber-Fahrer, derart verprügeln, dass ihm für ein halbes Jahr die Fahrerlaubnis entzogen werden muss.

Von der Elterngeneration zeichnet Guédiguian ein schmeichelhafteres Bild: Zwar glauben sie nicht mehr an die Wirkmacht von Solidarität unter Arbeitern – Sylvie wehrt sich mit allen Kräften gegen den Streik ihrer Kollegen in der Reinigungsfirma –, aber sie fordern sie in der Familie ein, fordern sie füreinander ein, es ist das einzige Schutzschild, das ihnen in dieser Gesellschaft bleibt. In Daniel legt Guédiguian sein Befremden und sein Entsetzen, nicht aber seine Resignation. Gloria Mundi beginnt mit einer Geburt und endet mit einem Tod. Die letzte Szene ist an Grausamkeit kaum zu übertreffen, in ihr aber beharrt Daniel endgültig auf der Gültigkeit der Werte, die die Jungen verloren haben – zugunsten der Jungen.
Der Film steht bis 28.06.2024 in der Arte-Mediathek.
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