Girls of the Sun – Kritik
Der kurdische Befreiungskampf erreicht den Wettbewerb von Cannes – oder eben auch nicht. Eva Hussons Girls of the Sun setzt den weiblichen Peshmerga-Milizen ein Denkmal, das diese nicht verdient haben. Eine Palme könnte es trotzdem geben.

Das Bild einer kurdischen Kämpferin. Einen bunten Turban um die Haare gewickelt, den Blick fokussiert, das Maschinengewehr fest in den Händen. Sie linst um eine Ecke, schreckt sofort wieder zurück, ein Feind steht da, hat sie noch nicht bemerkt. Die Kämpferin atmet nochmal durch, dann betritt sie den Raum und mäht den schwarzgekleideten IS-Soldaten um, stößt dabei einen wilden, aggressiven Schrei aus. Ein Bild, das leider nicht für sich steht.
Schlussmonolog über den Mut der Frauen

Fast Forward: Der Abspann von Eva Hussons Girls of the Sun ist die Ruhe selbst. Während die Credits schon laufen, sehen wir noch die französische Reporterin Mathilde (Emmanuelle Bercot) im Profil, sie sitzt verletzt auf der Ladefläche eines Pick-ups und blickt zurück in ihre Zeit mit einem kurdischen Frauenbataillon, das soeben eine brutale Schlacht gegen den IS überstanden hat. Im Voice-over hören wir das pathetische Ende der Reportage, die sie bald schreiben wird, ein Ende, das sie sich, so legen es Bild und Ton nahe, vielleicht gerade in diesem Moment erdenkt. „Schreib die Wahrheit“, hat Miliz-Anführerin Bahar (Golshifteh Farahani) ihr noch mit auf den Weg gegeben.
Auch Girls of the Sun hat zwei Stunden vorher mit einem Bekenntnis zur Wahrheit begonnen. Der Film beruht auf tatsächlich stattgefundenen Ereignissen, die sich zwischen 2014 und 2015 im Norden Kurdistans zugetragen haben, er sucht seine Wahrheit, das macht der abschließende Monolog Mathildes klar, aber weniger in einer möglichst genauen Rekonstruktion kriegerischer Ereignisse. Es geht dort eher abstrakt zu, Mathilde spricht von weiblichem Mut und einer neuen Generation von Frauen, und darum geht es Eva Husson auch. Und was bietet sich für eine entsprechende Illustration besser an als ein Film über jene Frauen, die in Kurdistan Tag um Tag ihr Leben aufs Spiel setzen?
Der Ikone ein Innenleben

Das Bild der bewaffneten Kurdin, das seit dem ersten Auftreten der weiblichen YPJ-Einheiten durch westliche Medien geistert, ist ja immer mindestens zweierlei: ein Bild von jungen Frauen, die ihre Weiblichkeit nicht hinter einer Uniform verstecken, sondern in diese einbauen, ein Symbol für einen kämpferischen Feminismus, der jedem ernst zu nehmenden Kampf für eine bessere Gesellschaft inhärent sein muss. Zugleich bietet sich dieses Bild geradezu an für orientalistische Projektionen, produziert quasi am laufenden Band Covergirls mit gratis Revolutionsromantik. Das Bewegtbild nun kann aus diesem Dualismus aus Empowerment und Objektivierung flüchten, ein Spielfilm schließlich muss die Ikonografie aufsprengen, das Bild von seinem Zeichencharakter befreien, das Antlitz in der Figur erden, das visuelle Porträt zu einem narrativen machen.
Diese Operation ist es, die filmische Wahrheit herstellt, und deshalb ist nicht die Frage, ob die Ereignisse in Girls of the Sun historisch korrekt abgefahren werden, die entscheidende, sondern eine andere: Welches Innenleben verleiht der Film dem ikonischen Bild der kurdischen Kämpferin? Oder, aufs Narrativ bezogen: Woher kommt der wilde Schrei, den Bahar ausstößt, während sie ihren Feind umnietet?

Aufgestautes Leid
Eva Hussons Antwort lautet erstmal: Da hat sich eine ganze Menge angesammelt. Als Bahar und Mathilde sich kennen und mögen lernen, erfährt die Reporterin, und wir sehen das alles in Rückblenden, dass bei einem IS-Angriff Bahars Mann vor ihren Augen erschossen und ihr Sohn entführt wurde, dass sie selbst eine Zeit lang als Sexsklavin gehalten wurde, dass ihre Schwester sich nach einer Vergewaltigung umgebracht hat und in ihren Armen starb. Als könnte sich der Film also selbst nicht anders erklären, warum man als Frau zu den Waffen greift, als wäre er der Verteidiger seiner Protagonistin in einer Gerichtsverhandlung und wir die Jury, schenkt er uns lauter Bilder weiblichen Leidens, die aus dem aggressiven Schrei Bahars einen verzweifelten machen, die den Tötungsaffekt in altbekannter Emotion grundieren. Damit Bahar im Haupterzählstrang bewaffnet durch Tunnel und Ruinen schreiten, über Taktik und Strategie nachdenken, sich in Zeitlupe vor Explosionen flüchten, kurz: ein kriegerischer Körper werden kann, muss sie zwischendurch immer wieder in eine Rückblende gezogen werden und ein wenig im Close-up leiden.
Befreiung und Notwendigkeit
Nichts will der Film dagegen wissen vom kurdischen Autonomieprojekt, vom Feminismus als integralem Bestandteil der kurdischen Befreiungsideologie, von Frauen, die nicht Mütter sind. Auf die Frage, warum sie der Miliz beigetreten ist, antwortet Bahar: Es war der einzige Weg, meinen Sohn zurückzubekommen. Und auch Mathilde muss sich schließlich eingestehen: Selbst wenn sie sich von der kleinen Tochter entfremdet fühlt, ohne sie würde sie das alles hier überhaupt nicht durchhalten. Die Journalistin und die Peshmerga bonden auch fern der Heimatfront über ihre Liebsten. Girls of the Sun gibt uns exakt jenen Teil des kurdisch-weiblichen Kampfes, auf den sich alle einigen können: gegen IS und Assad, für die Familie.
Das letzte Bild von Bahar, bevor Mathilde mit dem Pick-up weggefahren wird: Die kurdische Kämpferin mit dem Maschinengewehr in einem, dem kleinen Sohn auf dem anderen Arm. Man kann dieses Bild als analytisches lesen, als das der weiblichen Heldin, die qua Geschlecht Kampf und Familie vereinen muss. Die Wahrheit, die Girls of the Sun in den zwei Stunden zuvor hergestellt hat, legt aber eine andere Lesart nah: Das Kind auf dem einen macht die Waffe auf dem anderen Arm erträglich. Es macht aus dem Bild der Befreiung eines der Notwendigkeit. Von allen weiblichen Attributen, die der kurdische Feminismus dem Westen schenkt, schnappt sich dieser Film ausgerechnet das konservativste: Aufopferungsvoll, diese Frauen.
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