Girl – Kritik

Schon sein, was man noch wird. Der belgische Regisseur Lukas Dhont inszeniert in Girl das Transgender-Sein als Kampf gegen den eigenen Körper.

Als Lara (Victor Polster) im Spiegel ihre Brust von allen Seiten inspiziert, ist die Kamera da. Als sie sich die Genitalien abklebt, ist die Kamera da. Die Kamera erhascht nicht, sie tapst sich nicht scheu an ihren Gegenstand heran, sie ist da, mit der Selbstverständlichkeit derer, die nicht zu sehen geben, sondern schlicht sehen. In der in einem solchen Film zentralen Frage danach, was wie gezeigt wird, hat sich Girl dafür entschieden, Laras Blick nachzuahmen. Doch es fällt schwer, ihren Blick zum eigenen zu machen, ihr so zwischen die Beine zu gucken, wie sie es tut. Es fällt schwer, sich des Eindrucks zu erwehren, etwas zu sehen, das einem doppelt nicht zusteht. Zum einen, einer Fünfzehn-, im Laufe des Films dann Sechzehnjährigen ungestört in den Schritt zu glotzen. Zum anderen, Lara auf ebendie Stelle zu schauen, die ihr existenzielles Unbehagen auslöst, als könnte die Dissonanz, die sie empfindet, nur durch den verlässlichen Überraschungseffekt nachempfunden werden, zwischen ihren Beinen immer wieder einen Penis vorzufinden. Dissonanz ist das in Girl vorherrschende Narrativ über Transgender: der Kampf gegen den eigenen Körper.

Die Dekonstruktion der Darbietung

So passt es auf den ersten Blick wunderbar, dass Dhont diese Ebene mit einer zweiten verwebt. Gleich zu Beginn wird Lara an einer der besten Tanzschulen Belgiens aufgenommen. Auch hier deutet sich eine bevorstehende Verwandlung an: von einem Mädchen, das seine Rückschritte aufholen muss – anders als ihre Mitschülerinnen hat Lara nicht im Alter von zwölf mit Ballett begonnen –, zu einer vollausgebildeten Ballerina. Auch hier ist das vorherrschende Register das des Kampfes und des Schmerzes. Jede Ballettstunde fordert ihren Tribut: Auf den Unterricht folgt unweigerlich eine Szene, in der Lara ihre blutigen Zehen offenbart und das – nicht selten auch blutige – Klebeband in ihrem Schritt abreißt. Dabei geht es nicht darum, die Performance abzugelten, die Illusion der mühelosen Schönheit zu durchbrechen. Denn schon die Darstellung der Tanzstunden liest sich wie eine Absage an das gängige Versprechen des Balletts, an die Harmonie, die Leichtigkeit, die Schwerelosigkeit. Girl ist keine Ballettdarbietung, sondern das Dekonstruieren der Darbietung. Der gehackte Schnitt verwehrt dem Zuschauer die fließenden Bewegungen, die flüchtigen Einstellungen verhindern das Zusammenspiel aller Tänzer. Übrig bleiben umherschwirrende Einzelteile, deren Logik im Verborgenen bleibt. Die tanzende Lara verweigert sich der Kamera, fordert sie zu einer Verfolgungsjagd auf. Die Kamera kommt nicht hinterher, stößt an andere Körper, lauert dann Lara von der anderen Seite auf; und die Jagd beginnt von vorne. Der Kampf wird nicht mehr um den Körper geführt, sondern um seine Darstellung.

Girl findet mit diesen Tanzszenen ein willkommenes Pendant zu den expliziten Szenen, in denen sich Laras Spiegelbild scheinbar willfährig der Kamera entgegenstreckt, allzu gern bereit, unsere Neugierde zu stillen: Was Sie schon immer über Transgender wissen wollten, aber bisher nicht zu fragen wagten. Dabei wehrt sich Girl eigentlich gegen den Verdacht dieser Absicht, bemüht sich, die Gewalt der Bloßstellung anzuerkennen. Als Klassenkameradinnen Lara auffordern, sie einmal zwischen die Beine gucken zu lassen, zeigt die Kamera ihr entsetztes Gesicht, das sich abwendet; die Enthüllung bleibt uns verborgen. Girl ist auch nicht darauf erpicht, mit Spannung eine körperliche Verwandlung zu inszenieren, Kapital zu schlagen aus einem Vorher/Nachher-Effekt. Ganz im Gegenteil zeichnet sich der Film durch eine konsequente Verweigerung aus, irgendetwas an Laras Körper zu ändern. Zwar beginnt Lara eine Hormonbehandlung, die die weibliche Pubertät einleiten soll. Doch sichtbare Effekte werden während der Spielzeit noch nicht einsetzen. Und so ist Girl auch ein Film über das Warten, das sehnsüchtige, alles beherrschende, unerträgliche Warten: auf die Wirkung der Hormone, auf die geschlechtsbestätigende OP, auf die Anerkennung als Ballerina. Das titelgebende Girl ist auch ein Hinweis auf ihr Teenagerdasein, auf die Ungeduld ihrer jungen Jahre: Nichts geht schnell genug.

Selbst ist die Gewalt

Zuvorderst ist der Titel aber die selbstverständliche Anerkennung von Laras Geschlechtsidentität. „Du bist schon die Frau, die du nach der OP sein wirst“, sagt der Arzt zu Lara, was sie freilich nicht überzeugt. Und so ganz überzeugt ist der Film auch nicht, bleibt – wie seine Protagonistin – ganz fixiert auf ihren Körper. Girl inszeniert sie als Zwitter, erkennt ihre Weiblichkeit an, aber versucht anscheinend auch, sich ihren eigenen Blick voller Abscheu und Befremden anzueignen. Der dominierende Blick auf Laras Körper soll in diesem Film tatsächlich ihr eigener sein, das eigentliche Ringen das Ringen mit sich selbst. Transphobie wird in Girl nicht geleugnet, steht aber nicht im Vordergrund. Keiner in Laras Umfeld spricht ihr das Mädchen-Sein ab; der Vater (Arieh Worthalter) unterstützt seine Tochter auf jede erdenkliche Weise, das medizinische Personal ist wohlwollend und sensibel, die Tanzschule hat Lara selbstverständlich in einer Mädchenklasse aufgenommen, und die Mitschülerinnen teilen kommentarlos Umkleide- und Duschraum mit Lara. Die Gewalt in diesem Film geht von Lara selbst aus, eine Gewalt, die in starkem Kontrast steht zu den zarten Farben, die ihn durchziehen, und zu Laras sanfter, fast unbeteiligter Art. Es ist bezeichnend, dass die letzte Szene – die Laras eiserne „Was nicht passt, wird passend gemacht“-Logik auf eine vorhersehbare Spitze treibt – so viel sanfter und weicher ist, als jede es Ballettdarstellung in Girl war.


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