Giraffe – Kritik

VoD: Was bleibt in ehemals bewohnten Räumen von einem Menschen, was verliert ein Mensch, der seinen Wohnort verlassen muss? Die dänische Regisseurin Anna Sofie Hartmann erkundet in Giraffe einen bevorstehenden Tunnelbau als gesellschaftlichen Umschlagplatz.

Giraffe ist wie der Besuch bei einem zum Tode Verurteilten. Noch ist es Leben, das einem entgegenblickt, das Leben, das man kennt. Doch man guckt anders auf dieses Leben, weil man weiß, dass es unmittelbar auf sein Ende zusteuert. So guckt Dara (Lisa Loven Kongsli) in diesem Sommer auf die dänische Insel Lolland. Ein örtliches Museum hat sie beauftragt, das zu dokumentieren, was einem großen Infrastrukturprojekt zum Opfer fallen soll: Häuser, Lebensgeschichten, Traditionen. Sie weichen dem Wachstum: Der bevorstehende Tunnel unter dem Fehmarnbelt, der Meerenge zwischen Lolland und der Ostseeinsel Fehmarn in Schleswig-Holstein, soll die Märkte in Nord- und Mitteleuropa enger zusammenbinden.

Mensch und Raum

Doch es sind andere, weniger sichtbare Verbindungen, die Hartmann interessieren. Giraffe beginnt, bevor die Güterströme einsetzen, bevor überhaupt gebaut wird. Zu sehen sind lediglich Menschen, die in naher Zukunft ihr Haus räumen sollen, und polnische Arbeiter, die Kabel verlegen für die Unterbringung der zukünftigen Tunnelarbeiter. Es sind Schicksale, die sich nicht begegnen werden. Erst Daras Betrachtung führt sie zusammen, wenngleich nur erstere Eingang finden in ihre Dokumentationsarbeit. Doch an ihnen dröselt Giraffe dieselbe Frage auf, die der Bindung von Menschen an ihre Wohn- und Lebensorte; die Frage nach dem, was in vormals bewohnten Räumen von einem Menschen bleibt und nach dem, was ein Mensch, der seinen Wohnort verlassen muss, verliert.

Daras Blick wird zunächst zum Prinzip des Films erhoben, ein respektvolles Betrachten, das keine Hierarchie kennt, denn es geht allein um den Raum als gemeinsamen Nenner, um die Gleichzeitigkeit der Geschehnisse an einem Ort. Mit behutsamen Schwenks erschließt die Kamera von Jenny Lou Ziegel die Umgebung, porträtiert Menschen in kunstvoll gestalteten Einstellungen, die sie im umgebenden Raum verankern: ein altes Paar in seinem Esszimmer, polnische Arbeitsmigranten in der Gruppenunterkunft. Vertraute Räume müssen dem Bau weichen. Der schafft wiederum neue Räume, in denen es sich einzurichten, Vertrautheit herzustellen gilt, vorübergehend. Und dann gibt es Räume, die schon fast verloren sind. So stößt Dara in einem verlassenen Bauernhof auf das Tagebuch einer gewissen Agnes Sørensen und spürt ihrem Leben nach. Agnes hat zwei Männer in ihrem Leben, so wie Dara, die alsbald eine Affäre beginnt mit dem Arbeiter Lucek (Jakub Gierszał). Dann aber kommen Dara Zweifel: Ob sie nur ihr eigenes Drama auf Agnes projiziert? Elegant fädelt Giraffe das Spannungsverhältnis ein zwischen dem, was Blicke vorfinden, und dem, was Blicke erzeugen. In der Figur von Käthe (Maren Eggert), einer Frau, die auf der Fähre zwischen Fehmarn und Lolland arbeitet, scheint Dara bzw. die Regisseurin selbst ein Alter Ego zu finden: Präzise beobachtet Käthe die Gäste auf der Fähre und dichtet ihnen Geschichten an.

Blinder Fleck

Es gibt einen ersten Bruch, als Dara eine Affäre mit Lucek beginnt. Ein bisschen wirkt es so, als betrete sie ihren eigenen Dokumentarfilm. Plötzlich nimmt das Fiktive überhand, gleichzeitig scheint Dara mit dieser Affäre ihre dokumentarische Arbeit zu vertiefen, derselben Neugier folgend. Sie mag gewissermaßen die Handlung betreten, auf sich selbst blickt sie dennoch nicht, und damit erhebt sich der Film über Daras Blick, zeigt, was sie selbst nicht sieht: Dara hat sich aus freien Stücken, von ökonomischen Zwängen losgelöst, für ein geografisch loses Leben entschieden. In einer bezeichnenden Szene liest sie Lucek am Strand vergnügt aus A Field Guide to Getting Lost vor; Lucek, der nicht zur Geburtstagsfeier seines Großvaters nach Polen konnte, sich für ein Sub-Sub-Subunternehmen abmüht und am Ende ohne Lohn dastehen wird. In der Liebesbeziehung zwischen Dara und Lucek ist die Vergänglichkeit angelegt, die Dara dokumentiert. Auch das zeigt Giraffe: dass räumliche Nähe noch kein gegenseitiges Verständnis schafft, dass dokumentarische Neugierde blinde Flecken kennt, dass Menschen kommen und gehen.

Der Film steht bis 14.04.2022 in der ARD-Mediathek.

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