Gipsy Queen – Kritik
VoD: Boxen ist Arbeit, und der Boxerfilm kaschiert diese Gleichung im besten Falle nicht, sondern stellt sie aus. In Hüseyin Tabaks Gipsy Queen nimmt die Kamera immer dann Fahrt auf, wenn die Protagonistin Tische abräumt oder im Ring austeilt.

Mit einem Kind an der Hand, dem anderem im Arm läuft die Frau (Alina Șerban) durchs Dorf, vorbei an einfachen, bunten Häusern, auf Straßen ohne Asphalt. Zweimal biegt sie um die Ecke, und da, wo man normalerweise die Kirche erwarten würde, steht ein Boxring, das hochfrequentierte Zentrum dieser Gemeinschaft. Sie ist zurückgekommen und bittet um Wiederaufnahme bei ihrem Vater, einem verdienten Boxtrainer, doch der verstößt sie endgültig. In ihrem Stolz verletzt, verhöhnt sie den Mann mit den Worten, die sie früher so oft von ihm gehört hat: „Schwebe wie ein Schmetterling, stich wie eine Biene!“

Ali heißt die Frau, Protagonistin in Hüseyin Tabaks Film Gipsy Queen, und ihr Schicksal war es eigentlich, ein Boxchampion zu werden. So zumindest hat es der Vater für das Roma-Mädchen aus einem rumänischen Dorf vorgesehen. Doch die wurde schwanger, brannte durch und lebt nun in Hamburg, wo sie sich und ihre kleine Familie mit Schwarzarbeit im Hotel oder auf dem Bau gerade so über Wasser hält. Keine Spur von dem glorreichen Leben, das ihr vorherbestimmt schien. Doch obwohl sie ohne Unterlass schuften muss und permanent den Vorurteilen ausgeliefert ist, die sie als Roma treffen, tut sie alles, um ein ordentliches Leben zu führen und ihre Kinder so gut wie möglich im Sinne der „Weißen“ zu erziehen. Weder aber kann sie sich dauerhaft ihrer Herkunft entziehen noch dem Boxsport, für den sie so viel Leidenschaft hegt.
Disziplin und Selbstkontrolle

Im Boxerfilm, vielleicht dem proletarischen Filmgenre schlechthin, geht es meistens um den Konflikt zwischen der einfachen Herkunft des Helden und seiner Assimilation an bürgerliche Normen. Dem Habitus seines Herkunftsmilieus kann er deshalb nicht verhaftet bleiben, weil sein Ziel, ein großer Boxer zu werden, nur mit viel Disziplin und Selbstkontrolle erreichbar ist. Die Verbürgerlichung wird aber dort problematisch, wo sie bedeutet, die eigene Identität aufzugeben. Auf diese ist der Boxer angewiesen, weil er ohne sie den Mut, die Wut und den Willen nicht aufbringt, in den Ring zu steigen.

Wie wenig ihre Bemühungen um Anpassung honoriert werden, merkt Ali in Gipsy Queen spätestens, als sie von einer Vorgesetzten um ihren Lohn betrogen und ihre Tochter in der Schule als „Zigeunerin“ gemobbt wird. Da landet sie auf der Suche nach neuer Arbeit in der Kneipe „Zur Ritze“, in deren Keller regelmäßig Boxevents ausgetragen werden. Als sie nach einem solchen Abend dort aufräumt, glaubt sie sich kurz unbeobachtet und wendet sich dem Boxsack zu. Erst ganz sachte, dann immer fester und entschlossener bearbeitet sie ihn, und auch nach all den Jahren sind ihre Bewegungen routiniert, sind ihre Fäuste treffsicher. Und dann steht da auf einmal ihr Vater neben ihr, schaut zufrieden zu, und plötzlich werden wir zurückversetzt in Alis Jugend zu einem Zeitpunkt, als ihr der Box-Olymp noch offenstand. Die guten und bösen Geister ihrer Vergangenheit, sie kehren von nun an immer wieder in ihre Gegenwart zurück, brechen in das Bild ein.
Versöhnung des Unvereinbaren

Doch Tanne (Tobias Moretti), der proletenhaft liebenswürdige Kneipenbesitzer und Ex-Boxprofi, hat Ali gesehen, wie sie den Sandsack gekonnt traktierte, und bietet ihr an, zukünftig in seinem Keller zu trainieren. Und so kriegen wir nach ganzen sechzig Minuten Film die erste, das Genre so sehr definierende Trainingssequenz: Seilspringen, Laufen, Sandsack, Sit-ups, Seilspringen, Schattenboxen, Sparring – alles im Dreiminuten-Intervall und untermalt mit derben Hip-Hop-Beats. Gerade an solchen Stellen wird deutlich, wie sehr die Ästhetik des Boxerfilms an Erfahrungswelten des Proletariats und dem Rhythmus der Fabrik orientiert ist. Wie die Arbeit am Fließband ist auch das Boxtraining monoton, schweißtreibend und durchgetaktet. In Gipsy Queen wird diese Analogie auch dadurch unterstrichen, dass die Kamera, die sonst meist unauffällig und sanft arbeitet, immer dann Fahrt aufnimmt, wackeliger wird, wenn Ali durch Hotelgänge hastet, unter Zeitdruck Flaschen von den Kneipentischen aufsammelt oder eben im Ring einsteckt und austeilt. Boxen ist Arbeit, und der Boxerfilm kaschiert diese Gleichung im besten Falle nicht, sondern stellt sie aus.

Für Ali zahlt sich das harte Training schnell aus, denn sie erhält einen finanziell sehr lohnenden Auftritt bei Tannes Box-Abend: In einem Affenkostüm soll sie sich mit zahlenden Touristen prügeln. Auch hier macht der Film wieder deutlich, dass das Boxen nicht die einfache Antithese zur Schufterei im Niedriglohnsektor ist, sondern dass man auch bei diesem Job seine Haut zu Markte tragen muss. Den Unterschied machen das bessere Geld und das gute Gefühl, niemandem schutzlos ausgeliefert zu sein, sich ein besseres Leben buchstäblich selbst erkämpfen zu können. Auch wenn man als Boxer – ob als Gorilla verkleidet oder nicht – der Schaulust des Publikums dient, kann man es damit zu Ruhm und Wohlstand bringen. Aber vor allem ist es für den Boxer, also auch für Ali, die Möglichkeit auf Versöhnung des zuvor Unvereinbaren: Einerseits unterwirft er sich einem strengen Reglement, übt sich in Disziplin und Askese, wird nach bürgerlichem Standard erfolgreich und ehrbar. Andererseits bleibt er seinen Wurzeln treu und integriert das Nonkonforme, das seiner Herkunft eignet, in sein Leben als Boxer ein, macht es gar zum Garanten seines Erfolgs.
Sechs Minuten in einer Einstellung

Ali überzeugt an diesem Abend und bekommt die Chance, erneut ganz oben in der Boxwelt mitzuspielen. Nachdem es fast bis zur Mitte des Films gedauert hat, bis die ersten Fäuste flogen, wartet Gipsy Queen in der zweiten Hälfte schließlich doch noch mit all dem auf, was ein richtiger Boxerfilm braucht: ein röhrendes Publikum, Salven vernichtender Schläge, blutende Augenbrauen, Volltreffer in Großaufnahme und in Zeitlupe anzählende Ringrichter. Der Höhepunkt des Films ist ein sechsminütiger Kampf, dessen Inszenierung in einer einzigen Einstellung und mit furioser Kamera ohne Probleme mit den besten – in aller Regel US-amerikanischen – Beiträgen zum Genre mithalten kann. Gipsy Queen ist damit einer der ganz wenigen deutschsprachigen Boxerfilme, die diesen Namen auch verdient haben.
Der Film steht bis zum 24.03.2022 in der Arte-Mediathek.
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