Ghost Town Anthology – Kritik

Zurück aufs Land wollen nur die Toten. Ghost Town Anthology erzählt vom Dörfersterben im kanadischen Quebec in Gestalt einer atmosphärensatten Gruselgeschichte. Dabei wird viel evoziert und wenig geliefert. 

Ich kann keine Zombies mehr sehen. Sie machen mich depressiv. Es ist doch ein treffendes Zeichen für die fehlenden Zukunftsideen des Kinos (und, weil sie da auch ständig rumeiern: der Videospiele), wenn jedes Jahr in Filmen und Serien wieder die lebenden Untoten aufgeweckt werden. Soll uns das ein ums andere Mal an unsere sklavenhafte Vergangenheitsverbundenheit erinnern?

Case in point: Denis Côtés Ghost Town Anthology, der mittlerweile zweite Film der diesjährigen Berlinale – neben dem grundscheußlichen und erbarmungslos dumpfen Kinder der Toten –, in dem ein abgeschiedenes Dorf ein Tête-à-Tête mit seinen verdrängten Geistern hat. Obendrein sind beide Filme sehr ausgestellt analog gedreht (jaja, der fotografische Prozess, der die Vergangenheit mumifiziert), beide sind sich nicht zu schade, die Rückwärtsgewandtheit ihrer Dorfdeppen durch eine herbeigeskriptete Konfrontation mit Frauen in Kopftuch auszustellen, und beide bemühen sie die übernatürlichen Erscheinungen, um vage soziohistorische Kommentare zu raunen: die unaufgearbeitete Nazivergangenheit Österreichs da, das Sterben ländlicher Lebensräume in Quebec hier. Nur könnte der karnevaleske Ton der Jelinek-Verballhornung nicht weiter weg sein von der bedeutungsübervoll dräuenden Schwerfälligkeit Côtés.

Checkliste für den nächsten Dorffilm

Atmosphäre und Plattitüde, das sind die beiden hauptsächlichen Inszenierungsstrategien von Ghost Town Anthology. Erst einmal evoziert der Film über verschwenderisch eingesetzte Landschaftsaufnahmen gar nicht mal übel das Gefühl einsamer, endloser ruraler Tristesse: Verfallene Scheunen modern in eisiger Ödnis, windumtost ist die Soundspur, sogar das Korn des 16-mm-Materials scheint wie verweht. Aber das alles ist nur instagram-würdige Umgarnung für ein klischeestrotzendes Ensemblestückchen.

Machen wir eine Liste: Was darf nicht fehlen, wenn man eine Gruppe dörflicher „Charaktere“ erzählen will, die von urbanem Weltbürgertum unbeleckt vor sich hinleben? Dorftrottel: Check. Die depressive Adèle ist die Erste, die die lebenden Toten erspäht (Spoiler: Anfangs glaubt ihr niemand!). Die verschrobenen Querköpfe: Check. Es gibt da ein putziges Pärchen, das per Walkie-Talkie miteinander redet und jeden zweiten Satz mit den gleichen Koseformen einleitet. Der unzufriedene Heißsporn: Check. Jimmy (Robert Naylor) will nach dem Selbstmord seines Bruders nur noch raus und verschwendet bis dahin seine Jugend, indem er auf dem Schneemobil durch die Gegend braust. Und auch sonst machen die Personen das, was sich ein Regisseur aus der Großstadt so über eine traditionelle Gemeinschaft zusammenreimt. Wenn Frauen alleine sind, sind sie im Bad und machen sich schön, wenn Männer beieinander sind, schrauben sie an irgendwas rum.

Der endlos hinausgezögerte Gegenschuss

Côté setzt auf maximal gedehnte Evokation und minimal auf Entgrenzung. Er scheint sich einiges (das Setting, die interpretatorische Offenheit, die Langsamkeit) bei der Serie Les Revenants abgeschaut zu haben. Hier wie dort geht es nicht um eine Konfrontation der Dorfbewohner mit blutgierigen Monstern, sondern darum, Modelle des Zusammenlebens der Lebenden und ihrer Toten zu finden. Wie die Serie flirtet Ghost Town Anthology mit Horror, behält von dessen charakteristischer tension-and-release-Mechanik aber nur die tension, dehnt und dehnt sich, ohne eine Entladung zu erlauben. Doch verzichten will Côté auf klassischen Grusel denn auch nicht. Weil aber nie irgendwem Gefahr droht, sind die zahllosen Szenen, in denen sich jemand panisch nach knarzenden Balken oder diffusen Schatten umdreht, wenig ergiebig. Sein allerliebster Freund ist Côte aber das Off, mit dem er fast eine obsessive Beziehung aufbaut. Nicht mal Roland Emmerich zögert den reverse shot auf das, was Leute entgeistert außerhalb des Bildes anblicken, so endlos lange heraus. Manchmal gibt es den Gegenschuss sogar gar nicht.

Ghost Town Anthology findet bei all dem nie einen Ton, der sich zu einer Haltung verdichten würde. Ist es ökonomiekritisch gemeint? Die paar Verweise auf das Dörfersterben, die stillgelegte Mine und die Landflucht bleiben dafür zu kursorisch. Vielleicht geht es um die Psyche der Betroffenen? Dafür bleiben die Figuren zu sehr Drehbucherfindungen, wobei der unausgegorene Mix aus depri Traueraufarbeitung und Twin-Peaks-hafter Dorfverschrobenheit auch nicht weiterhilft. Ist es letztlich eher ein Fühl- als ein Denkfilm, geht’s zentral ums Atmosphärische? Das klappt auch nicht, weil alles, was am eisigen Setting und der teils erhaben grauen Winterreise eigen ist, von Stimmungsverstärkern aus der Mottenkiste trivialisiert wird (wer zum Beispiel hat Côté geraten, das Nebelhorn aus Inception- und Shutter Island-Zeiten wieder hervorzuholen und unablässig über die tristen Weiten heulen zu lassen)? Letzter Ausweg für den ratlosen Kritiker: Es ist ein Meta-Film! Côté arbeitet auf doppelter Bühne: Er dreht eine Zombiegeschichte als Wiederkehr untoter Erzähl- und Inszenierungsstandards. Zufrieden? Nein.

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