Gavagai – Kritik

14 Films Festival: Akkurate Metaschleifen, die nur sehr gelegentlich Sehgewohnheiten herausfordern. Ulrich Köhler begibt sich mit Gavagai an ein afrikanisches Filmset und damit in ein autobio- wie autofilmografisches Spiegelkabinett.

Im Taxi zur Premiere ihres Films wagen Maja (Maren Eggert) und Nourou (Jean-Christophe Folly) einen Blick in den Pressespiegel. Draußen tröpfelt der Februarregen auf den Berliner Asphalt. Die ersten hektisch getippten Urteile trudeln ein: „Caroline Lescot stellt die antike Tragödie auf den Kopf und rüttelt an unseren Sehgewohnheiten.“ Langsam wiederholt Nourou, der kaum Deutsch spricht, dieses Wort: Seh-ge-wohn-hei-ten. Kein einfaches, aber ein wichtiges Wort in der Filmwelt. Wer sie bedient, hat nichts gewagt und wird folglich nicht gewinnen. Wer an ihnen rüttelt, übt Kritik am Bestehenden und landet womöglich einen großen Wurf. Um wessen Sehgewohnheiten es sich handelt, wird dabei selten näher ausgeführt. Gerade Filmfestivals appellieren gern an ein diffuses Wir-Gefühl (wir Filmkritiker*innen übrigens auch), als säßen wir alle nicht nur im Kino, sondern auch im selben Boot.

Majas Bürgerlichkeit färbt ab

Die kurze Szene im Taxi enthält vieles, was Ulrich Köhler in Gavagai umtreibt: Sprache, Meta, Deutungshoheit. Die Anlage seines Films ist verschachtelt, wie das für Filme über das Filmemachen üblich ist. Als Alter Ego hat Köhler die fiktive französische Regisseurin Caroline Lescot (Nathalie Richard) ausbaldowert, die mindestens optisch eine erstaunliche Ähnlichkeit zu Claire Denis aufweist, was kein Zufall sein dürfte, wenngleich Ulrich Köhler in Interviews Gegenteiliges behauptet. Denis und Köhler verbindet die biografische Besonderheit, dass sie aufgrund der Berufe ihrer Eltern Teile ihrer Kindheit in Afrika verbracht haben. Beide thematisieren diese Vergangenheit in ihren Filmen. In Schlafkrankheit (2011) setzte sich Köhler mit der sogenannten Entwicklungshilfe auseinander, mit der seine Eltern einige Jahre in Zaire (heute DR Kongo) befasst waren.

Die Dreharbeiten zu Schlafkrankheit fanden in Kamerun statt und verliefen, so Köhler, chaotischer und neokolonialer als beabsichtigt. Die Dreharbeiten, die in Gavagai zu sehen sind, finden im Senegal statt und sind ebenfalls keine Speerspitze der Harmonie. Maja und Nourou spielen die Hauptrollen in Lescots Medea-Adaption, deren identitätspolitisch pikante Pointe darin besteht, dass die weiße Französin Lescot Medea mit einer weißen Frau besetzt, die aus der Gemeinschaft der Schwarzen verstoßen wird – eine Form von reverse racism also, die sich darauf stützt, dass die aus Kolchis stammende Medea in Korinth Ausländerin war. Am Strand von Dakar unterbricht die Regisseurin die Aufnahme und stürmt frustriert ins hüfthohe Wasser: Majas Bürgerlichkeit färbe viel zu sehr auf ihre Rolle ab; wenn sie so spiele, nehme ihr niemand die Bereitschaft zum Kindsmord ab. Dass die Kinder, die mit Medea auf einem Motorboot durch die Wellen schaukeln, aus Sicherheitsgründen Schwimmwesten tragen, macht Lescot ebenfalls rasend (und zwar auf eine sehr französische Art).

Nur bedingt zugehörig

Maren Eggert ist qua Filmografie prädestiniert für die Rolle der verzweifelten Mutter mit, gelinde gesagt, angespanntem Verhältnis zu ihren Kindern (vgl. Der Spatz im Kamin, 2024, Ich war zuhause, aber…, 2019). Umso besser, dass sie dieses Potenzial in Gavagai gleich doppelt ausschöpfen kann. Nachdem Marens Maja im Medea-Kostüm von Lescot in die Wellen geschubst wurde, stürmt sie – vor Bürgerlichkeit und Atlantikwasser triefend – an Land und sucht Trost im Videocall mit der Tochter. Von ihrem Mann in Deutschland lässt sie sich scheiden, mit ihrem Leinwandpartner Nourou hat sie im Senegal eine Affäre begonnen. Ob das für sie mehr als ein exotisches Abenteuer ist, bleibt zunächst ungewiss. Nourou hingegen hat einen europäischen Pass und lebt in Paris, der senegalesischen Gesellschaft fühlt er sich nur bedingt zugehörig.

Das Filmprojekt droht jedenfalls aus dem Ruder zu laufen; das wenige, was man davon zu sehen bekommt, wirkt wie kunstwillig „dekonstruktiver“ Eurotrash mit teils antik, teils afrofuturistisch ausstaffierten Sets samt Touki Bouki-Motorrad und showstehlendem Pelikan. Medea spricht ihre Dialoge auf Deutsch (in der Grillparzer-Bearbeitung des Dramas von 1821), am Set findet die Kommunikation auf Englisch oder Französisch statt, die größtenteils senegalesische Komparserie verständigt sich intern auf Wolof, bleibt aber buchstäblich außen vor. Nachdem einige von ihnen das Catering entdeckt haben und etwas davon abhaben wollen, spendiert Lescot kurzerhand eine Platte knuspriger Hühnerschenkel, was wohl gönnerhaft gemeint ist, aber verdächtig an eine Fütterung erinnert. Zwischen guten Absichten und guten Taten klafft bekanntlich eine Lücke, besonders wenn überall historisch gewachsene Machtstrukturen und weiße Privilegien lauern.

Schlafkrankheit? Berufskrankheit!

Eine räumlich-zeitliche Lücke klafft derweil zwischen dem ersten und den letzten beiden Akten von Gavagai. Die Handlung springt vom Filmdreh zur Filmpremiere, von Dakar nach Berlin. Nourou, nun mit längeren Haaren, sitzt in der Lobby des InterContinental(!)-Hotels, in das er vom Festival einquartiert wurde und dreht sich eine Zigarette. Ein polnischer Sicherheitsbeamter (Mateusz Malecki) bittet ihn, zum Rauchen nach draußen zu gehen. Was harmlos beginnt, schaukelt sich schnell hoch: Der Sicherheitsbeamte bedrängt Nourou, möchte seinen Ausweis sehen, offenbar kann er sich den schwarzen Mann nicht als Hotelgast vorstellen. Ein typischer Fall von Alltagsrassismus. Bevor es zu Handgreiflichkeiten kommt, stößt Maja hinzu („long time no see!“), die sich erst an der Rezeption, später beim Hotel-Management als weiße Retterin aufspielt und die sofortige Entlassung des Sicherheitsbeamten fordert – möglicherweise auch, um eigene Schuldgefühle gegenüber Nourou zu kompensieren. Dieser muss das alles über sich geschehen lassen, niemand fragt, wie es ihm geht.

Die Hotel-Szene ist mit aufmerksamem Blick inszeniert und nicht weniger als der Daseinszweck von Gavagai. Im Rahmen der Berlinale-Premiere von Schlafkrankheit gab es einen nahezu identischen Fall von racial profiling mit dem Hauptdarsteller Jean-Christophe Folly, der sich im Berlin-Teil von Gavagai also zu einem gewissen Grad selbst spielt. Köhler gab damals den übereifrigen white saviour und hat sich in Gavagai nun in die Maja-Figur hineinverschachtelt. So kann er sein eigenes Fehlverhalten kritisch (aber vermittelt) hinterfragen und signalisieren, dass er daraus gelernt hat. Es ist zumindest bemerkenswert, dass beide seiner Alter Egos im Film Frauen sind (macht das die Situation interessanter/ambivalenter/komplexer oder ist das einfach feige?). Die Neigung zu Film-im-Film-Filmen ist unter Filmemacher*innen längst zu einer Art Berufskrankheit geworden, nicht zuletzt, weil sie reichlich Raum für autofiktional angehauchte Gesten der Selbstkritik (missgünstig ausgedrückt: Nabelschau) liefern. Insofern wäre „Berufskrankheitvielleicht der ehrlichere Filmtitel gewesen, auch um die enge Verbindung mit Schlafkrankheit zu markieren, die einem ohne Pressematerial oder Interviews womöglich entgeht.

Diskursslalom mit den Shangri-Las

Gavagai ist als Titel aber auch toll. Es handelt sich um ein Fantasiewort, das auf ein Gedankenexperiment des Philosophen W.V.O. Quine referiert, „bei dem es darum geht, dass ein Ausdruck […] einer völlig fremden Sprache nicht eindeutig übersetzbar ist in eine bekannte Sprache, weil nicht bestimmbar ist, worauf sich der Ausdruck der fremden Sprache bezieht“ (vgl. Lexikon der Argumente; vom SRF gibts ein schrulliges Erklärvideo dazu). Aus dieser nicht einzuebnenden Übersetzungsunbestimmtheit bezieht Köhlers Film sein kulturelles Unbehagen. Die Viersprachigkeit des Films ist nur ein Beispiel für die zahlreichen Möglichkeiten des Missverstehens. Auf der Pressekonferenz vor der Premiere wird die Regisseurin mit kritischen Fragen zu ihrer privilegierten Position gelöchert; was sie von Pasolinis Medea halte, will jemand wissen, und auch der Elefant im Raum, nämlich dass sie als weiße Frau einen Film in Afrika gedreht hat, kommt zur Sprache sowie – in einem surrealistischen Einsprengsel – kurz ins Bild.

Obwohl er die in der Filmwelt (und in der „echten“ Welt) nach wie vor virulenten Ausprägungen rassistischer Machtstrukturen so gekonnt wie differenziert ineinanderblendet, rüttelt Gavagai nur sehr sachte an „unseren Sehgewohnheiten“. Von zwei aufregend undurchsichtigen Abschweifungen abgesehen (erstens: Nourou als Donut-Lieferant in Majas Berliner Altbauwohnung mit schulpflichtigem Kind, zweitens: Nourou als potenzielles Opfer des selbsterklärten bad guys Mišel Matičević, der seine Rolle aus Thomas Arslans Trojan-Filmen für einen Moment aufleben lässt), verschanzt sich Köhler in einem allzu arrangierten Spiegelkabinett der Selbstreflexion.

Das letzte, in seinem Zeitlupenpathos seltsam ergreifende Bild von Lescots Film ist auch das letzte Bild von Köhlers Film: Medeas Kinder sind am Leben geblieben und schippern auf See umher. Auf der Tonspur säuseln die Shangri-Las etwas von „Zukunft“. Zukunft evoziert Aufbruch, aber das Motorboot dreht sich im Kreis. Sehr passend für einen Film, der in akkuraten Metaschleifen Diskursslalom fährt, ohne wirklich von der Stelle zu kommen.

Neue Kritiken

Trailer zu „Gavagai“


Trailer ansehen (1)

Neue Trailer

alle neuen Trailer

Kommentare

Es gibt bisher noch keine Kommentare.






Kommentare der Nutzer geben nur deren Meinung wieder. Durch das Schreiben eines Kommentars stimmen sie unseren Regeln zu.