Gangubai Kathiawadi – Kritik

Netflix: Prostituierte, Zuhälterin, Drogenbaronin, Sexarbeit-Aktivistin – Sanjay Leela Bhansali macht aus dem Leben der mythischen Figur Gangubai Kathiawadi einen wilden Genre-Mix aus Gangsterepos, Musical und Italo-Western voller Pointen und Pathos.

Wer Mumbais Stadtteil Kamathipura besucht, wird früher oder später auf die bunt bemalte Marmorbüste von Gangubai Kathiawadi stoßen. Zuerst als Prostituierte, dann als Zuhälterin, Drogenbaronin und später als leidenschaftliche Lobbyistin für die Rechte von Sexarbeiterinnen hinterließ sie ein Erbe, das die Häuserfassaden des Stadtbezirks auch heute noch mit Bildern von ihrem Gesicht schmückt.

Dreifacher Machtkampf

Wer die Büste mit den Fotografien der 1977 gestorbenen Aktivistin vergleicht, bemerkt vielleicht, dass die beiden Versionen bis auf das weiße Saree und das rote Bindi recht wenige Gemeinsamkeiten haben. Das lässt sich als Zeichen von künstlerischer Freiheit deuten, vielleicht auch als Indiz, dass die Erinnerung an historische Persönlichkeiten kaum trennbar von den Absichten derjenigen ist, die ihre Geschichte erzählen. Im Jahr 2005 brachte Sanjay Leela Bhansali eine Adaption der Lebensgeschichte Helen Kellers in die Kinos, in der er die Erlebnisse der Aktivistin durch einen fiktiven Avatar erzählte. Mit Gangubai Kathiawadi wählt er einen ähnlichen Ansatz. Der Name der Hauptfigur bleibt in diesem Fall jedoch derselbe.

Die Hitze steht in den Gassen Kamathipuras, als Gangubai (Alia Bhatt) sich aus ihrem pechschwarzen Oldtimer schält, in der Rechten eine Zigarette, die Augen hinter einer dicken Sonnenbrille versteckt. Als Teenagerin von ihrem Liebhaber (Varun Kapoor) betrogen und an die tyrannische Zuhälterin Sheela (Seema Bhargav) verkauft, verliert sie mit einem Schlag alles. Seitdem ringt Gangubai um ihre eigene Handlungsmacht: als Mensch in einem ausbeuterischen Beruf, als Frau in einer frauenfeindlichen Gesellschaft und schließlich als politische Akteurin im Kampf gegen eine religiös geprägte Elite, die ihr das Existenzrecht abspricht. Ihren Widersacher*innen bietet sie mit Worten und Fäusten Paroli, pflegt Kontakte zu Mumbais Unterwelt und erreicht am Ende sogar eine Privataudienz mit dem Premierminister (Rahul Vohra).

Harte Schale, weiches Herz

Alia Bhatt schafft es, selbst in den rauesten Momenten Empathie für ihre Figur zu erzeugen. Der Film ist wie Gangubai oft hart und aufbrausend; er beschönigt nicht die Brutalität seiner Welt. Unter der harten Schale schlägt aber ein weiches Herz. Gangubai deutet ihre Traumata zu dringlichen Handlungsaufforderungen um. Sie stellt das Wohl ihrer Leidensgenossinnen vor ihr eigenes – auch wenn es bedeutet, in ihren folgenreichen Entscheidungen ihr Bedürfnis nach Sicherheit und Geborgenheit wieder und wieder hintenanzustellen.

Dabei ist Gangubai Kathiawadi ein Film von großem sinnlichem Reiz. Die Bilder sind tief und reich an Texturen; Schauspiel, Schnitt und Musik greifen ineinander, um an jeder Ecke Pointen und vor allem Pathos zu erzeugen. Bhansali hat großen Spaß dabei, zwischen verschiedenen Genres vom Gangsterepos bis zur romantischen Komödie zu springen. Es gibt sogar Anspielungen auf den Italowestern, wenn Gangubais Armreife wie Stiefelsporen durch die Straßen hallen und eine raue E-Gitarre die Filmmusik bestimmt. In den für einen Bollywood-Film obligatorischen Musicalsequenzen nutzt der Film Musik, Tanz und Lyrik, um Beziehungen und Gefühle der Figuren auf eine Weise zum Vorschein zu bringen, wie es Dialoge nicht geschafft hätten. Ein Highlight ist etwa eine Szene, in der Gangubai den schüchternen Schneider Afsaan (Shantanu Maheshwari) umwirbt und die beiden über mehrere Tage ausschließlich über Handgesten miteinander kommunizieren.

Das Vorrecht schöner Körper

Eine Faszination für die Person Gangubai Kathiawardi liegt in ihrer moralischen Ambivalenz. Leider malt das Drehbuch von Bhansali und Utkashini Washishta ein sehr simples Wertebild, um ihr Handeln für das Publikum verdaulicher zu machen. Gangubais Taten sind gerechtfertigt, weil sie eben zu den „Guten“ gehört. Die Guten erkennen wir als die Guten, weil sie fast ausnahmslos bildhübsch sind. Den „Bösen“ ist aber ihre Boshaftigkeit physiognomisch auf die Haut geschrieben. Besonders bedauerlich ist die Darstellung von Gangubais politischer Widersacherin, der Bürgermeisterin Raziabai (Vijay Raaz). Als offen nicht-binäre Figur wird Raziabai schlangenhaft, überheblich und lasziv dargestellt – sie soll durch ihre Andersartigkeit Unbehagen auslösen. Überzeichnungen wie diese ergeben einen herrlich theatralen Film, der aber immer wieder kurz davor ist, seinen eigenen humanistischen Kern zu untergraben.

Neben allen Genre-Anleihen steht Gangubai Kathiawardi eben auch mit halbem Fuß im Fantasy. Er erzählt eine Welt von buckeligen Ghulen und guten Seelen, großen Palästen und ausladenden Festen. Dabei findet der Film seinen emotionalen Kern nicht trotz, sondern in seiner ästhetischen Extravaganz. Wenn er darüber hinaus zum Interesse an der historischen Figur hinter den fiktiven Ausschmückungen anregt – umso besser!

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