Gagarin - Einmal schwerelos und zurück – Kritik
Gagarin - einmal schwerelos und zurück nimmt uns mit auf eine Reise durch den Mikrokosmos der gleichnamigen Satellitenstadt vor den Toren von Paris – und erzählt von einem Jungen, der sich vor ihrer Räumung in einer selbst gebauten Raumkapsel einrichtet.

Ein Mobile baumelt von der Zimmerdecke. Im Zentrum ein gelber Tennisball, darum kreisen kleinere Bälle wie Planeten – das ganze Sonnensystem in einem Raum. Von seinem Bett aus schaut der 16-jährige Youri (Alséni Bathilym) entschlossen in den Kosmos über ihm. Seine Mission: die Welt retten. Seine Welt. Wir sind in der Cité Gagarine in Ivry-sur-Seine, wenige Kilometer südöstlich von Paris. Die Siedlung wurde 2019 abgerissen. Genau hier, in dieser apokalyptischen Vorstadtszenerie, verorten Liatard und Trouilh ihre Geschichte, die von den letzten Tagen der Siedlung erzählt.

Youri lebt in einer Art Symbiose mit der Architektur, die ihn umgibt, und wandelt dabei auf den Spuren von Juri Gagarin, dem ersten Kosmonauten und Namenspatronen der Siedlung. Zu Beginn von Gagarin - einmal schwerelos und zurück sehen wir im Rückblick historischer Aufnahmen die Einweihung des Sozialbaus im Jahr 1963: Juri Gagarin ist persönlich anwesend, die Menge jubelt. Die Zukunft liegt vor der Haustür. Moderner Wohnungsbau. Ein neuer Lebensraum, der den Menschen eine bessere Zukunft verspricht.
Himmlische Vororte

Von der Aufbruchsstimmung, mit der dieses Wohnprojekt des lebendigen Kommunismus in Frankreich begann, ist in dem Ort in der Pariser Banlieue Jahrzehnte später nichts mehr übrig. Was bedeutet es, hier zu leben? Für Youri bedeutet es die ganze Welt. Von seiner Mutter verlassen, hat er hier in den anderen Bewohnern eine Familie gefunden. „Wir sind Nachbarn auf dem Mond“, sagt seine Freundin Diana (Lyna Khoudri) einmal. Gemeinsam mit ihr und Houssam (Jamil McCraven) setzt Youri die kleinen Dinge in der Cité instand, um sie vor dem Abriss zu bewahren. Sie tauschen Lichter aus, überstreichen Graffitis und reparieren die Fahrstühle. Doch als die offizielle Räumung der Siedlung einsetzt, bleibt Youri als Einziger zurück und richtet sich im siebten Stock ein Leben in einer selbst gebauten Raumkapsel ein.

Während die Investoren aus der Großstadt das Kapital in einer Neuerschließung sehen, sieht Youri den gesellschaftlichen Wert, den dieses Viertel für jeden einzelnen Bewohner, aber auch für die angrenzende Großstadt Paris hatte. „Kennst du die himmlischen Vororte?“, fragt er Diana, als sie in einem Baukran sitzen und bei Nacht auf ihre verlassene Cité blicken. „Sie sind die Atmosphäre um einen Stern, ohne sie kann der Stern nicht leben.“ Youri weiß um den Zusammenhalt der Bewohner, die Nachbarschaft und Freundschaft, die kulturelle Vielfalt, den Kit in der Community – etwas, das der Großstadt verloren gegangen ist und das er um jeden Preis bewahren möchte.
Schwerelose Bilder der Vergangenheit

Gagarin zeigt, dass die Siedlung mehr war als ein monumentales Bauwerk vergangener Zeiten. Sie war ein eigener Kosmos, in dem sich der Pioniergeist und Fortschrittsgedanke des Sozialismus und des Raumfahrtzeitalters manifestierten. Sinnbildlich streckt sich bei Liatard und Trouilh die scheibenartige Hochhausfront der Satellitenstadt wie die riesigen, rechteckigen Flügel einer Raumstation in den Himmel. Die Kamera fängt die Formensprache der Architektur und ihre archaische Schwere mit einer imposanten Leichtigkeit ein, die sich wie die Aufhebung der Gravitation anfühlt: mal in leicht rotierenden Fahrten, mal in bewegungsloser Stille. Scheinbar schwerelos hängt der Klotz im Raum. Detailaufnahmen von Satellitenschüsseln, Balkongeländern und Betonpfeilern heben sich gegen das endlose Blau ab.
Letzter Mann auf dem Trabanten

Damit wird Gagarin auch zu einem Medium der Erinnerung. Denn wo einst die futuristischen Träume der 1960er Jahre Raum eingenommen haben, entsteht heute, nach dem Abriss, eine Öko-City für all jene, die sich den Nachhaltigkeitsluxus leisten können. Die alte Vision von einem guten Leben ist von einer neuen abgelöst worden. Vor diesem Hintergrund wirkt Gagarin wie ein Brennglas, in dem sich alle Formen und Farben, alle Emotionen und zeitlichen Erzählebenen zu einem fiktional-dokumentarischen Bild bündeln: ein politischer Film, eine berührende Liebesgeschichte und ein leuchtendes SOS-Signal im Angesicht fortschreitender Gentrifizierung.

Über all dem schwebt Youri in seinem roten Trainingsanzug und einem Astronautenhelm. Sein Fußabdruck auf dem verschneiten Dach der Cité gleicht dem berühmten Fußabdruck auf dem Mond. Doch ist Youri nicht der erste, sondern der letzte Mann auf dem Trabanten. Dann kommt das Sprengkommando, und die schwarzen Balken im Bild schließen sich langsam von oben und unten, wie zwei müde Augenlider, bis nur noch ein schmaler Streifen zu sehen ist. Aus dem Off hören wir die Stimmen von Zeitzeugen. Die Erinnerung eines Jungen klingt dabei wie ein Nachruf an einen geliebten Weggefährten: „Ich weiß, dass es nur ein Gebäude war. Aber wenn ich darüber spreche, spreche ich oft von ‚ihm‘.“ Dann ist alles schwarz. Ruhe in Frieden, Gag.
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