Forest: I See You Everywhere – Kritik

Liebe, Schuld, Entfremdung: Bence Fliegauf blickt mit seinem Episodenfilm in sieben Wohnungen und auf die zwischenmenschlichen Dramen, die sich dort abspielen. Die Welt da draußen bleibt ganz pandemisch ausgesperrt.

Es gibt keine Masken in diesem Film, keine Pandemie. Und doch sind fast alle Figuren in ihre Wohnungen eingepfercht, als befänden sie sich dort in Quarantäne. Nur ganz selten dringen sie in die Außenwelt vor. Allein sind sie indes nicht, ganz im Gegenteil: In intensiven Dialogen tragen sie tiefgehende Konflikte mit Partnern, Eltern oder einem Auftragskiller aus. Lange aufgestaute Gefühle brechen sich Bahn, Vorwürfe werden erstmals ausgesprochen. Bindungen zerbrechen, Begehren dringt an die Oberfläche.

Die Hölle, das sind die anderen

In den sieben Miniaturen seines Kammerspiels Forest – I See You Everywhere (Rengeteg – mindenhol látlak) erzählt der Ungar Bence Fliegauf von den ganz großen Emotionen: Liebe, Eifersucht, Schuld, Trauer, Wut. Ein Mädchen macht ihren Vater für den Unfalltod der Mutter verantwortlich und wird damit konfrontiert, dass ein- und dasselbe Ereignis sich aus verschiedenen Perspektiven ganz anders darstellen kann. Ein Mann will sich an dem Scharlatan rächen, der seine krebskranke Freundin erst in den finanziellen Ruin und dann in den Tod getrieben hat. Ein Junge haut von zu Hause ab, weil seine tiefreligiöse Mutter ihm Fantasy-Rollenspiele verbieten will, er in ihrem Glauben auch nur ein Fantasy-Rollenspiel erkennen kann. Fliegauf knüpft mit diesem Episodenfilm an sein Debüt Forest (Rengeteg, 2003) an, das ebenfalls in kurzen Skizzen ein Kaleidoskop menschlicher Wünsche, Sorgen und Leiden entwarf.

Wie in vielen anderen Episodenfilmen schwankt auch hier das Niveau der einzelnen Erzählungen recht stark. Die zwei fesselndsten stehen wohl nicht zufällig am Anfang, danach wirkt manches etwas aufgesetzt. Der dritte und vierte Teil provozieren recht bemüht mit narrativen Schockeffekten, inszenieren diese aber mit bewusstem Understatement. Und der fünfte Part steht mit seiner komödiantischen Art ein bisschen quer zum Rest des Films. Fliegauf widersteht der Versuchung, die Episoden zu einem „Everything-is-connected“-Potpourri zu vermischen. Allerdings hinterlässt das Gesamtwerk so auch den Eindruck, er habe viel zu erzählen, aber wenig zu sagen.

Und doch gibt es einige Elemente, die die sieben Episoden verbinden: Alle spielen am Abend – nur ein einziges Mal sehen wir kurz Tageslicht. Alle erzählen in dichten Dialogen Geschichten aus der Stadt, zumeist unter Gutsituierten. Fast alle drehen sich um seelische Nöte im Privaten. Armut, Migration oder Landleben kommen ebenso wenig vor wie die politische Situation in Ungarn. Und stets sind die anderen die Hölle – nicht Isolation oder Alleinsein führen zum Leiden, sondern die Koexistenz.

Maskenfall

Auch stilistisch schafft Fliegauf Verbindungen zwischen den Einzelteilen: Die Episoden beginnen meist mit einem Moment, der nicht dem chronologischen Anfang der jeweiligen Geschichte entspricht. Stattdessen teast der Film das Publikum mit einer Schlüsselszene, ehe es zurück zum eigentlichen Ausgangspunkt des Plots geht.

Visuell ist Forest deutlich weniger reichhaltig als Fliegaufs vorheriger Film, das düstere Experimentalfilm-Moodpiece Lily Lane (Liliom ösvény, 2016). Das liegt vor allem daran, dass er fast ausschließlich in Innenräumen spielt und Diskussionen statt Handlungen zeigt – die Kameraführung ‚belebt‘ das Ganze gelegentlich mit rapiden Schwenks zwischen den Personen und Fokussierungen auf einzelne Körperteile und deren Gestik. Auf den ersten Blick etwas merkwürdig wirkt das Bildrauschen, das in vielen dunklen Szenen auftritt. Tatsächlich aber imitiert der Film damit eine Home-Video-Ästhetik, die durch ihre Amateurhaftigkeit unterstreicht, dass wir als Zuschauer hier intimen Momenten zwischenmenschlicher Beziehungen beiwohnen dürfen, die sich sonst hinter verschlossenen Türen abspielen. Insofern gibt es doch Masken in diesem Film: fallende.

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