First Cow – Kritik

MUBI: Mit gestohlener Milch Brötchen backen, oder die europäische Unterwerfung des amerikanischen Kontinents als infantiles Projekt. First Cow stürzt sich mit großer Lust in die Persiflage und weiß um das Trügerische jeden Triumphs.

Die Kuh kommt auf einem Floß herangeglitten, eingespannt zwischen zwei Holzpfähle, umgeben von goldenem Dämmerlicht. Als erste Vertreterin ihrer Art erreicht sie irgendwann im frühen 19. Jahrhundert die hinterste Ecke des Oregon-Territoriums, im Schlepptau der immer weiter westwärts strebenden europäischen Siedler. Ihre Ankunft ist ein inszeniertes Schauspiel, ein symbolischer Akt: Das stumme Dahintreiben dieses neuen Nutztiers soll deutlich machen, dass die europäische Besiedelung des amerikanischen Kontinents kein bloßes Oberflächen- oder Herrschaftsphänomen bleiben wird, sondern tief in das Gleichgewicht dieser Welt eingreifen wird – dass sie sich ihrer wildwüchsigen Natur nicht nur bemächtigen, sondern sie nach ihrem eigenen Bild neu erschaffen wird.

Anstoßen auf das Ungewisse

Kelly Reichardts First Cow ist in der Endphase eines Umbruchs angesiedelt, in der es noch einen letzten, vielleicht trügerischen Rest an Offenheit und Unbestimmtheit zu geben scheint. Die Menschen, die in die Wälder Oregons strömen, sind nicht nur auf der Suche nach persönlichem Glück und Reichtum, sondern sie alle wollen, bewusst oder unbewusst, dieser Welt schnell noch ihren Stempel aufdrücken, wollen mitbestimmen, was für eine Welt dies in Zukunft sein soll. In diesem Treiben konzentriert sich Reichardt auf zwei Außenseiter, die weitgehend unbemerkt im tosenden Strom der Siedler mitschwimmen und dabei still ums Überleben kämpfen. Die sich entwickelnde Freundschaft zwischen dem Koch Cookie Figowitz (John Magaro) und dem chinesischen Einwanderer King-Lu (Orion Lee) wird dabei auch zur Gegenüberstellung von zwei unterschiedlichen Auffassungen von Geschichte und von den Möglichkeiten und Grenzen menschlicher Gestaltungskraft.

Figowitz ist schon allein durch seinen Beruf mit dem Erdreich eng verbunden. Bevor man ihn selbst sieht, sieht man seine Hände, die durch den Waldboden wühlen und tastend nach Pilzen suchen. In seinem dreckigen Ledermantel und seinem zerzausten Bart wirkt er weniger für ein Leben in den offenen Räumen menschlicher Siedlungen als für eines im nasskalten Dunst des Unterholzes gemacht. Die Welt ist für ihn vor allem durch ihr unermessliches Alter bestimmt, das mit seinem gesamten Gewicht auf den Menschen lastet und sie einem unerforschlichen Ziel entgegendrängt.

Lu hingegen, meistens akkurat in einem edlen Mantel gekleidet, spinnt aus jedem spontanen Einfall gleich eine weltumfassende Geschäftsidee. Oregon ist für ihn ein Ort, an dem man dem Lauf der Geschichte noch einen Schritt voraus sein kann, an dem die eigene Vergangenheit zur unverbindlichen Spielerei wird. Als Figowitz und er gemeinsam eine kleine Hütte beziehen, hebt Lu zur Feier das Glas mit den Worten: „Here’s to … something.“ Man weiß noch nicht, was die Zukunft bringt – aber anstoßen kann man darauf schon mal.

Eigenmilchtherapie

Wie seine zwei Hauptfiguren ist auch Reichardts Film selbst von zwei unterschiedlichen Registern geprägt. Am Anfang dominiert noch ein tragischer Tonfall: Die Menschen kämpfen sich durch eine urwüchsige Waldlandschaft, in der es keinen Himmel, keine Weite gibt, in der ihre nervösen Bewegungen ganz verblassen vor den in Jahrtausenden getakteten Rhythmen der Natur. Doch mit dem Aufeinandertreffen von Figowitz und Lu – und in der starken Typisierung dieser Figuren – entwickelt „First Cow“ eine unerwartete, befreite Komik. Der Film wird dann zu einem klassischen Schelmenstück, in dem zwei Außenseiter durch Gewieftheit und Chuzpe die Eitelkeiten einer abgehobenen Herrscherklasse zur ihrer eigenen Bereicherung auszunützen wissen. Denn die beiden haben die Idee, des Nachts heimlich die titelgebende erste und bislang einzige Kuh des Territoriums, die sich im Besitz des Vorstehers der Siedlung befindet, zu melken. Mit der gestohlenen Milch wollen sie allerlei feine Backwaren produzieren, die man dann auf dem Markt für gutes Geld verkaufen kann.

Reichardt schreckt in diesen Szenen nicht vor beißender Überzeichnung zurück: Nervös reiben sich die verdreckten Trapper die Hände, während sie ungeduldig in der Schlange stehen, völlig beglückt beißen sie dann in ihr süßes Milchbrötchen, das extra noch mit Honig übergossen wurde. Und auch der Vorsteher schmilzt dahin, als die Mehlspeise in seinem Gaumen ihn zurücktransportiert in seine Kindheit in London. Es ist ein regressiver Traum, den das ungleiche Gespann aus Figowitz und Lu gekonnt zu bedienen weiß: Auch in der neuen Welt will man immer nur das Vertraute serviert bekommen, und am besten schmeckt immer noch die eigene Vergangenheit.

Die europäische Unterwerfung des amerikanischen Kontinents erscheint hier als ein im Grunde infantiles Projekt, und First Cow stürzt sich mit großer Lust in diese Persiflage – auch weil Reichardt von Anfang an deutlich macht, dass diese satirische Energie schließlich ins Leere läuft. Denn der Film beginnt mit einem in der Gegenwart angesiedelten Prolog: Eine junge Frau geht mit ihrem Hund am Ufer eines breiten, vielleicht sogar künstlich begradigten Flusses spazieren, auf dem reihenweise Tanker und Transportschiffe unterwegs sind. Irgendetwas bindet plötzlich die Aufmerksamkeit des Hundes, und die junge Frau findet, nur von einer dünnen Erdschicht bedeckt, zwei nebeneinanderliegende Skelette. Die Momente der Offenheit, der Unbestimmtheit, des Triumphes sind in First Cow letztlich nur trügerische. In den engen, fast quadratischen Bildern von Reichardts Film bleiben die Figuren stets fest eingebettet: in ihre Umgebung, in den Gang der Geschichte, in ein gemeinsames Grab.

Den Film kann man bei MUBI streamen.

[Der Text ist ursprünglich am 23.02.2020 erschienen.]

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Kommentare


Barbara

Kelly Reichardt added that ... she and her longtime cinematographer Christopher Blauvelt “are always focused on the theatrical, so a lot of the decisions are made along the way with the theater in mind” (indiewire) - deshalb, und weil er sich auf Leinwand besonders lohnt anzuschauen wird der Film in diesem Jahr auch noch ins Kino Kommen (Start 18.11.)






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