Faruk – Kritik
Berlinale 2024 - Panorama: Männer, die auf Baustellen starren. Aslı Özge zeigt ihren Vater als Gentrifizierungsbetroffenen in Istanbul und stellt dabei verschiedene Formen des Kontrollverlusts gegenüber.

Im Jahr 2023 erklärte Emre Turan in einem Artikel für medium.com, weshalb sich türkische Menschen derart dazu angehalten fühlen, Baustellen zu beobachten. Der Mensch habe das instinktive Bedürfnis, die Geschehnisse um sich herum zu kontrollieren. Baustellengeräten bei der Arbeit zuzuschauen befriedige genauso den Destruktionstrieb wie den Wunsch danach, ein Gefühl von Kontrolle und Dominanz zu empfinden. Sie spricht damit ein Phänomen an, das über die türkischen Grenzen hinweg fester Bestandteil des Stadtbildes ist: alte Männer, die auf Baustellen starren. In der Regel mit leicht offenem Mund, die Hände hinter dem Rücken gekreuzt. In Italien nennt man diese Personen „Umarell“, ins Deutsche übersetzt: „kleiner Mann“. Auch wenn der Umarell nicht der explizite Untersuchungsgegenstand von Asli Özges Film ist, bietet er doch einen interessanten. Der Umarell ist in diesem Fall Faruk, die Baustelle sein altes Zuhause, das gerade mit einer Abrissbirne zu Geröll verwandelt wird. Der Anblick des Ü80ers, an dem man ansonsten auf der Straße wortlos vorbeigehen würde, wird mehr und mehr mit einem gesellschaftlichen Kontext angereichert. Und auch einem persönlichen, denn Faruk Özge, der ratlos der modernen Umstülpung Istanbuls zuschaut, ist der Vater der Regisseurin Aslı Özge.
Gentrifiziertes Istanbul

Grimmig sitzt Faruk inmitten von Ramsch. Die Gegenstände sollen auf zwei verschiedenen Haufen landen, einer wird in die neue Wohnung wandern und einer in den Müll – in fünfzig Tagen muss er ausgezogen sein. Faruk versteht nicht, weshalb das Hochhaus überhaupt abgerissen werden soll, es ist doch erst fünfzig Jahre alt! Regelmäßig nimmt er darum an Sitzungen der Gebäudeverwaltung teil, um bei der Entscheidung seine Schiebermütze in den Ring zu werfen, doch er scheitert an der Fülle von Bürokratie und Fachjargon. Es entsteht ein Bieter-Kampf zwischen konkurrierenden Bauunternehmen. Die einen bieten eine Dachterrasse, die anderen einen gläsernen Aufzug. Faruk will, dass alles so bleibt, wie es ist. Nach außen geht es den Unternehmern um Erdbebenschutz, doch eigentlich wollen sie die städtischen Fördertöpfe des „Urban Transformation Projects“ anzapfen, einer graduellen Gentrifizierungs-Maßnahme der Regierung.
Aslı Özge stellt verschiedene Formen des Kontrollverlusts gegenüber. Wohngemeinschaften und soziale Vernetzungen zerfransen sich langsam durch die Modernisierungsbestrebungen der Stadt. Zugleich muss der ehemalige Patriarch Faruk hinnehmen, wie ihm nebst den körperlichen Kräften auch die geistige Zurechenbarkeit abgesprochen wird. Immer wieder muss er Tests über seine mentale Fitness ablegen.
Kamerablicke

Im Taumel zwischen Gentrifizierung und Altersarmut ist in Faruk eigentlich eine pessimistische Schwere zu erwarten. Tatsächlich besitzt der Film aber eine überraschende Leichtigkeit, die sich vor allem durch einen spezifischen, kreativen Kniff einlöst. Im ersten Bild steht Faruk mit freiem Oberkörper vor dem Spiegel und betrachtet sich selbst, plötzlich ruft die Stimme seiner Tochter ihm aus dem Off Anweisungen zu. Faruk schaut mal in die Kamera, mal zu seiner Tochter, die im Abseits auf einen Monitor schaut. Einmal drehen! Einmal Bizeps anspannen! Und Cut! Immer wieder greift Özge, die das Drehbuch nach den realen Erlebnissen ihres Vaters geschrieben hat, auf diese Distanzierungseffekte zurück, indem sie in eine Making-of-Perspektive springt oder Outtakes verwendet. Erstens richtet sie damit den Blick auf die Perspektivität des Films: Wie setzt eine Tochter den Alterungsprozess ihres Vaters in Szene? Und welches Dilemma liegt dem Akt zugrunde, als Filmschaffende die Deutung über das Leben anderer vorzunehmen? Zweitens zieht Aslı Özge damit eine zweite, subtextuelle Ebene über ihre reale Beziehung zum Vater ein.
Insofern ist Faruk auch mit Rosa von Praunheims Bettwurst (1971) zu vergleichen. In diesem queeren Camp-Klassiker stellen ebenfalls Laiendarsteller*innen sich selbst dar. Dass sie dabei immer wieder über ihre eigenen Worte stolpern oder direkt in die Kamera schauen, führt paradoxerweise nicht zu einer Entfremdung des Publikums, sondern offenbart eine ungemeine Intimität und Verletzlichkeit dieser Personen, die ihre Realität vor der Kamera in Szene setzen sollen. Dass Faruk anders als Bettwurst sowohl als dokumentarisches Werk wie als fiktionalisierter Spielfilm funktioniert, ist einerseits dem durchdachten Schnitt zu verdanken und andererseits der Person des titelgebenden Rentners. Unter der emotional verschlossenen Mimik Faruks scheinen immer wieder Charme und Humor hindurch. Es ist eine Freude, diese Mikro-Expressionen in den intimen Nahaufnahmen seines Gesichts abzulesen.
Und um diese Brüche geht es letztlich. Am Ende entsteht der Eindruck, dass Asli Özge durch die Linse der Kamera nach einem Zugang zu ihrem Vater sucht und durch die filmische Narrativierung in einen Dialog mit ihm treten will. Dass sie sich selbst im Film als unzuverlässige, abwesende Tochter darstellt, zeugt auch von einer starken Selbstkritik. So stellt sich Özge letztlich zu ihrem Vater an die Baustelle und schaut mit ihm auf das Geröll.
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