Exit Marrakech – Kritik
Ein wenig fremdes Unglück: Caroline Link spendiert eine Pauschalreise nach Marokko.

Am Anfang gibt Caroline Link ihrer Hauptfigur den wohl meistgelesenen Satz aus Lew Tolstois Anna Karenina mit auf den Weg: „Alle glücklichen Familien gleichen einander, jede unglückliche Familie ist auf ihre eigene Weise unglücklich.“ Vorbehaltlos zu trauen scheint die Regisseurin und Drehbuchautorin dem überstrapazierten Zitat sowie den Bücherwelten, aus denen es stammt, aber selber nicht: Gemeinsam mit dem Teenager Ben nimmt sie Reißaus vor allzu viel Belesenheit und den Stätten bürgerlicher Kultur.
Das Roadmovie schickt seinen widerwilligen Protagonisten aus einem deutschen Internatsidyll in die Ferien zum ungeliebten Vater Heinrich nach Marrakesch, wo dieser im Zuge des Kulturaustauschs am Theater Emilia Galotti inszeniert. Bens Sensualismus, den der Film in der ersten Szene mit seinen durch hohe Gräser streifenden Händen, einem Bergpanorama im Morgengrauen und leuchtenden Zügen an der Zigarette einführt, findet in Heinrichs abgesteckter Welt zwischen Theaterritualen und Hotelpool keinen Halt. Da dringt der Ruf des Muezzins ins Theater, gerade als die unmündige Emilia vom Vater erstochen wird, und scheint Ben etwas zu versprechen, wovor seine Mutter ihn bereits gewarnt hatte: ein „echt fremdes“ Land.

Weg vom entfremdeten Vater, in die unbekannte Stadt zieht das Scheidungskind auf der Suche nach Identität und Authentizität, mit nicht viel mehr als der Kreditkarte und einer ordentlichen Portion Naivität im Gepäck. Als edlen weißen Mann, der die Kinder auf den Straßen beschenkt und der hübschen Sexarbeiterin Geld dafür gibt, dass sie sich ein wenig ausruht, inszeniert sich Ben hier mehr, als der Film es tut. Links Marokko ist bei all den Arabesken, Basaren und Teestuben doch eine Welt voller Brüche und Widersprüche, in der die goldenen Bögen von McDonald’s schon länger als tausendundeine Nacht leuchten und mit globalisiertem Fastfood locken. Als glatte Projektionsfläche für Märchenfantasien und ungezügelten Exotismus taugt dieses Marrakesch wenig, die Tajine mit Huhn hängt Ben bald schon wortwörtlich zum Hals heraus.

Eine vollkommene Desillusionierung mutet Link ihrem Publikum allerdings nicht zu, trotz der feinen Risse bleiben Marrakesch und die weiten Berglandschaften Marrokos pittoreske Kulisse für das Drama um die dysfunktionale Familie. Dabei sind die Zuschauer immer mehr Touristen als Reisende: Dass Ben, der sein Sohn-Sein schon im Namen trägt, und Heinrich ihre emotionale Distanz überwinden, während sie durch marokkanisches Niemandsland fahren, bedarf sicherlich keiner Spoilerwarnung. Aber auch der Weg zum versöhnlichen Ende gestaltet sich in Exit Marrakech überraschungsfrei.
Das Unglück dieser Familie, das so groß und anders gar nicht ist, verläuft auf Bahnen, die so eng und vorhersehbar sind wie die marokkanischen Landstraßen. Die Abstürze und Abgründe am Wegesrand sind nie so tief, dass sie faszinieren könnten, vieles hat den Beigeschmack von dramaturgischem Selbstzweck. Die Dramatisierung von Bens Diabetes etwa, die er wie einen Schatten der Zivilisation mit sich trägt, ist nicht nur kritisierbar, weil sie die Krankheit zum bloßen plot device erklärt. Dass diese den Marokkanern völlig unbekannt ist und Ben daher aus falscher Scham auf das Spritzen von Insulin verzichtet, wirkt darüber hinaus wenig plausibel.

Man könnte meinen, in Exit Marrakech ein Plädoyer für das Kino und seine besonderen Möglichkeiten, sich der Wirklichkeit anzunähern, zu entdecken: Während Heinrich die Fantasie spannender als die Realität findet und sich damit begnügt, am Swimmingpool des Touristenreservats Paul Bowles zu lesen, stößt sein Sohn in der Wüste auf Drehorte aus Bertoluccis Bowles-Verfilmung Himmel über der Wüste (The Sheltering Sky, 1990) und erlebt dort ganz eigene (Kino-)Abenteuer. Näher am Leben, authentischer scheint das Kino hier zu sein, reicher an Versatzstücken der Realität als die Literatur. Dass man das dem Film selber trotz aller handwerklichen Finesse letzten Endes nicht abnehmen mag, dürfte vor allem an Links formelhaftem Drehbuch liegen, das viel behauptet und wenig zu sagen hat. Mit großen Gesten führt es seine kleinen Gedanken aus, beansprucht Relevanz und Ehrlichkeit für seine Wirklichkeit und mag sich das, was diese Wirklichkeit ausmacht, doch nicht eingestehen: die eigene Fiktionalität.
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Kommentare
Frank Bleil
Ich möchte im Zusammenhang mit diesem Film doch einmal auf einen Aspekt hinweisen, der mir schon seit längerer Zeit in Spielfilmen Ärger bereitet. Seit dem Verbot der öffentlichen Zigarettenwerbung scheinen mir die Glimmstängel systematisch in einer Häufigkeit in Filmen platziert zu werden, die deren dramatischem Image- und Konsumrückgang in der zumindest westlichen Öffentlichkeit total entgegenläuft..
Der hier besprochene, ansonsten bedeutungslose und schablonenhafte Film treibt es meiner Beobachtung nach in dieser Hinsicht allerdings auf die Spitze. Man kann ihn zwar auch als Tourismus- und Autowerbefilm (BMW !) mit Handlungsvorwand sehen. Vor allem erscheint er mir aber als in die Länge gezogener Werbespot für Zigaretten (und andere 'Rauchwaren') und das ab der ersten Szene.
Es gibt nur wenige Sequenzen, in denen Zigaretten nicht optisch auffällig präsent sind. Dazu kommt - und das ist für mich das Ärgerlichste, weil es einer Bewusstseinsunterwanderung gleichkommt, die von direkter Werbung oder Marken-product-placement so nicht geleistet werden kann - die konsequente Assoziation der traditionellen Imagewerte der Zigarette mit entsprechenden Handlungselementen des Films (z.B. Konfliktlösungssituationen).
Natürlich gehört Manipulation unserer Wahrnehmung und unseres Bewusstseins zum Wesen des Films - aber hier ist für mich die Grenze zwischen einem Spiel, auf das wir uns meist ja gerne einlassen und einer perfiden Instrumentalisierung dieser Bereitschaft überschritten.
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