Evolution – Kritik
Plansequenzen, die an Kraft verlieren: In seinem neuen Film versucht sich Kornel Mundruczó an einem epischen Holocaust-Drama über drei Generationen – und findet genau das, was er sucht.

Alle Tendenzen, die man dem zeitgenössischen Festivalkino vorwerfen will – die überladenen Metaphern, das Ausstellen der Figuren als Klischee, die ideologische Selbstbeweihräucherung –, die Filme von Kornel Mundruczó bespielen sie und bedienen sich ihrer mit Gusto. Seit Johanna (2005) debütieren seine Filme regelmäßig in Cannes, wo er mit Weißer Gott (Fehér isten, 2014) auch seinen bisher größten Erfolg feierte, als er den Hauptpreis der wichtigsten Nebenreihe Un Certain Regard erhielt.
Geburt im Abwasserschacht

Dieser Film zeigte innerhalb Mundruczós Werk eine andere Richtung auf und begann zugleich seine Kollaboration mit Kata Wéber, die seitdem an all seinen Filmen mitschrieb. Mundruczós Kino änderte sich damit, es kokettierte offener mit Exploitation und Genre-Elementen. In Weißer Gott, gewissermaßen politische Metapher und Creature Feature in einem, preschen Hundewellen durch ein verlassenes Budapest, in Jupiter's Moon (Jupiter holdja, 2017) dient die europäische Flüchtlingskrise über ein paar Sci-Fi-Anleihen zur Wiedergutmachungsparabel für einen korrupten Polizisten, und in Pieces Of A Woman (2020) wird eine Hausgeburt zur Bühne für die virtuose Kameraarbeit von Benjamin Loeb. Mundruczós Filme sind deshalb nicht unbedingt besser geworden, brachen aber zumindest mit dem gezwungen spirituellen Slow Cinema von Johanna oder Delta.

Mit Evolution, der in Cannes’ neugeschaffener Sektion Cannes Première seine Weltpremiere feierte, beobachten Mundruczó und Weber in einem dreiteiligen intergenerationellen Drama nun die Nachbeben des Holocausts. Es beginnt wie bei Pieces Of A Woman mit einer Geburtsszene. Im beengten 4:3-Bildformat und mit einer achtzehnminütigen Plansequenz, in der die Kamera zwischen drei polnischen Soldaten changiert, die einen Duschraum in einem nicht benannten Konzentrationslager reinigen. Erst oberflächlich an den Wänden und dann mit erschreckender Detailtreue, als sie aufquellende Haarbüschel aus Wänden, Schächten, Röhren und Duschköpfen fischen. Das Haar der Ermordeten hat sich unter dem Betonboden ausgebreitet und ihn so brüchig gemacht, dass er schließlich splittert. Der Körper dringt nach oben, beschuldigt im Tod noch die Taten, die gegen ihn verrichtet wurden. Dann aus der Tiefe des Raums der Schrei eines Kindes: Éva wird aus einem Abwasserschacht geborgen.
Seichte jüdisch-muslimische Romanze

Der Rest des Films spielt in Berlin und folgt dem Konflikt zwischen Éva (Lili Monori) und ihrer Tochter Léna (Annamária Láng) sowie Léna und ihrem Sohn Jónás (Goya Rego). Wir erfahren von Évas Kindheit im KZ und ihrer Mutter und von den Verhaltensmustern, die sie übernommen und an Léna weitervererbt hat. „Der Holocaust hat mein Leben geprägt, aber mein Jüdischsein kann ich nicht beweisen“, summiert Léna und zerreißt fast an dieser Spannung. Es wird nach den Geburtsurkunden von Évas Mutter gesucht, aber sie besitzt fünf verschiedene. Geschichte menschelt, rechtfertigt sich, wird vergesslich und inkontinent, stirbt dann auch.

Jónás besucht eine Berliner Grundschule, wo seine Hanukkah-Laterne angezündet wird und einen Feueralarm auslöst. Mundruczó und Wéber stolpern in diesem Teil durch die Idee, dass historische Verfeindungen von neuen Generationen nicht mehr übernommen werden müssen, simplifizieren es aber in einer charmanten wie seichten Romanze zwischen Jónás und seiner muslimischen Mitschülerin Yasmin (Padmé Hamdemir). Wasser zieht sich auch durch die anderen Teile. Es bricht erst sintflutartig in den Streit zwischen Léna und Éva und wird dann zum Rückzugsort für Jónás und Yasmin.
Stilistische Verwahrlosung

Auch der zweite und dritte Teil werden in gleitenden Plansequenzen inszeniert, die schnell an Kraft verlieren. Im ersten Teil eignet sich diese Methode noch, um die Enge und den Horror des Duschraums einzufangen, im Kammerdrama zwischen Éva und Léna versandet dieses Stilmittel aber und verwahrlost vollkommen, als wir schließlich Jónás folgen. Das Drama ist ähnlich skizzenhaft. Niemand hier hat ein Leben außerhalb der Situationen, in denen sie auftreten. Alle symbolisieren eine Position, eine politische Haltung, aber niemand lebt durch die Entwicklungen, die die Figuren durchlaufen. Léna muss etwa im zweiten Teil ihr Judentum beweisen, um Jónás in eine jüdische Kita zu bekommen. In dem dritten Segment ist sie dementsprechend in ihrer Identität angekommen, und es ist Jónás, der sich verschiedene Masken aufsetzt.

Ein Kino, in dem man genau das findet, was man sucht, und das genau deswegen scheitert. Was fehlt, sind Spannungen oder wenigstens Widersprüche. Ja, auch hier werden wie in Jupiter's Moon arabische Minderheiten stereotypisiert, aber das Ganze zeigt eher eine sprachliche und kulturelle Distanz zu dem hier gezeigten Milieu als den aktiven Stilbruch. (Nenne mir einen anderen Film von 2022, in dem sich Berliner Schulkinder mit »Du Lauch!« beleidigen.) Nichts reicht inszenatorisch an die erste Szene im Duschraum heran. Sie bleibt im Gedächtnis, der Rest feiert sich in Cannes.
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