Offenes Geheimnis – Kritik

Schuld, Moral und blanke Nerven im spanischen Herbstidyll. Asghar Farhadi spielt Karten mit Penélope Cruz und Javier Bardem.

Die Zeit ist ein Geschehen der Veredelung, sie transformiert Zustände in andere Zustände: Aus Most wird Wein – zwischen dem einen und dem anderen liegt nichts als die Zeit, ein molekulares, chemisches Geschehen, das ganz für sich alleine abläuft, eine Verstoffwechselung. Paco erklärt das einer Gruppe gutgelaunter Lauscher auf seiner Finca, und über sein Gesicht zieht sich das breite, lachfaltenwerfende Weinschwenker-Grinsen Javier Bardems. Die Zeit ist aber auch, bleibt man bei dem Bild vom Wein, ein toxisches Geschehen, sie produziert Alkohol, ein Körpergift. Die Zeit ist beides: Veredelung und Vergiftung der Zustände – und gleich in der ersten Einstellung von Asghar Farhadis in der spanischen Provinz gedrehtem Film Offenes Geheimnis, der die diesjährigen Filmfestspiele von Cannes eröffnete, können wir ihr dabei zusehen: Hoch oben in einem rustikalen Glockenturm verzahnen sich die eisernen Uhrwerksräder ineinander, sie setzen einen langen Eisenstab in Bewegung und der lässt die Zeiger draußen auf der Kirchturmuhr wandern. Es tickt und surrt und schnarrt und gongt.

Vergiftung und Veredelung

Diese Dialektik der Zeit, dieses Zugleich von Veredelung und Vergiftung, an ihr ist Farhadi interessiert – und er spürt ihr in einem ausufernden Beziehungs- und Familientableau nach. Laura (Penélope Cruz) reist mit ihren beiden Kindern aus Argentinien zur Hochzeit ihrer Schwester Ana in einem pittoresken Ort mit mittelalterlichem Dorfkern an. Die Reise verlief problemlos, die Kinder sind ein wenig aufgekratzt. Vater Alejandro (Ricardo Darín) blieb zuhause – aus beruflichen Gründen, heißt es, aber das stimmt gar nicht. Früher waren Paco und Laura ein Paar, jetzt ist Paco mit Bea liiert. Vater Antonio ist alt geworden, er geht auf Krücken, ist launisch und trinkt etwas viel. Onkel und Tante betreiben ein Hotel gegenüber vom Glockenturm. Pacos Neffe hat ein Auge auf Irene, Lauras ältere Tochter, geworfen und besitzt zum Glück ein Motorrad, das gleich Irenes Aufmerksamkeit erregt. Man hat sich lange nicht gesehen, man umarmt sich, küsst sich, umarmt sich nochmal, den Kindern wird die Hand auf die Schulter gelegt, den kleineren wird durch die Haare gewuschelt. Der Moment des Wiedersehens nach langer Zeit ist, klar, besonders edel. Farhadi gelingt in diesen ersten Minuten eine schöne Liebkosungs- und Zärtlichkeitsmontage, ohne dass man aus ihr genau herausläse, wer zu wem in welchem spezifischen Zuneigungsverhältnis steht.

Ein starker Herbstregen

Eine wilde, rohe, unsortierte Beziehungsmaterie: Menschen, die einander schätzen und lieben, miteinander anstoßen, eng miteinander tanzen, draußen bei der Gartenparty, über die leider ein starker Herbstregen hereinbricht und mit ihm die Katastrophe: die zunächst unbemerkte Entführung Irenes durch eine Erpresserbande. 300.000 Euro verlangen die namenlosen Schurken für die Freilassung des zu allem Übel auch noch asthmatischen Kindes; wird die Polizei eingeschaltet, droht der 16-jährigen der Tod. Die Nerven liegen blank, draußen schüttet es wie sau, Cruz, die zuvor noch almodóvaresk mit Haarband und Smokey-Eyes-Partie für eine gewohnt bildschöne Unnahbarkeit sorgte, ist fortan ungeschminkt, Bardem bietet sich als gestandener Befreier an – und es ist gut möglich, das zumindest scheint der ein oder andere zu vermuten, dass er Laura immer noch liebt. Mit Irenes Entführung beginnt sich die Familie umzuklappen, sukzessive kommen die Geheimnisse und die moralischen Vergehen der Vergangenheit auf den Tisch, als würde nach und nach ein verdecktes Kartendeck offengelegt werden. Farhadi bringt Ordnung ins Tableau – durch Unordnung.

Schicksalhafte Glockenschläge

Offenes Geheimnis ist dabei in erster Linie eine Konstruktionsübung. Das Personal ist dem Film in seinen psychologischen Schattierungen (letztlich auch, trotz der namhaften Darsteller, in seinen körperlich-typischen Charakteristika und Prägnanzen) weitestgehend egal. Es geht ums Offenlegen und Verschieben, ums Verdichten und Irritieren, ums Umschichten und Verstoffwechseln dieses Familienbildes, das zu Beginn noch roh und unverarbeitet brach lag wie die staubige Steppe, in die vor vielen hundert Jahren jenes Dorf hineingepflanzt wurde, über dem die Kirchturmglocken nun schicksalshaft die Uhrzeit anschlagen.

Eine Vogelperspektive auf ein sich umklappendes Kartendeck. Sie korreliert mit einer Drohnenkameraeinstellung auf die tanzende Hochzeitsgesellschaft. Dieser Film soll durch ein Uhrwerk getaktet sein, durch das Uhrwerk, das genau jenes dialektische, verfeinernd-toxische Zeitgeschehen zeitigt, das Paco einmal so unschuldig grinsend seinen Zuhörern doziert. Gegen Ende kommt diese Uhr ins Stocken, die Zahnradmaschine korrodiert. Das aber hat weniger mit Farhadis konstruktivistischer Methode an sich zu tun, sondern vielmehr damit, dass er die Karten zu früh lüftet, dass er sein Spiel so schnell zu Ende spielt, dass der Film irgendwann nur noch ausrattert.

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