Europe – Kritik
In seinem ersten Spielfilm begleitet Philip Scheffner eine Frau, die vom Staat zum Verschwinden aufgefordert wird – und entzieht sich mit einem Rollenspiel der Macht der Eindeutigkeit.

Das Kino liegt vor der Haltestelle, die sich Europa nennt. Beiläufig fährt der Bus am Lichtspielhaus vorbei, wie er es nun mal jeden Tag so macht auf der Route durch eine kleine Gemeinde im Westen Frankreichs. Châtellerault heißt sie, und die Haltestelle „Europe“ gibt es dort tatsächlich. Bei der Recherche zu seinem ersten Spielfilm bemerkte Philip Scheffner das Wartehäuschen mit der schmalen Bank und dem Schild, das im Namen auf einen ganzen Kontinent verweist, ein Ort der Kompression, wo sich die Vorstellungen, Bilder und Träume verdichten. Sie haben schließlich nur begrenzt Platz in diesem Europa, das Hafen und Festung zugleich sein kann.
Aus dem Bild gedrängt
Ein ambivalenter Schauplatz, an dem Europe spielt, mit sonderbar aufgeräumten Architekturen. In den langen und statischen Einstellungen von Volker Sattel muten sie museal an, die Zeit hört nicht auf, sich weiter ins Stadtbild einzuschreiben. Jetzt ist Sommer und der Urlaub lockt, ehe der Herbst wiederkehren wird. Châtellerault dient nur als temporärer Halt, während Zohra Hamadi (Rhim Ibrir) auf die Verlängerung ihrer Aufenthaltsgenehmigung wartet. Ein paar Verwandte und Freund*innen sind schon da, der Ehemann, noch in Algerien, soll bald auch endlich kommen. Zohra hat einen Job und Skoliose, zu spät entdeckt für eine angemessene Behandlung. Aber Europe beginnt mit einer guten Nachricht: Ihr Gesundheitszustand habe sich verbessert, so die Diagnose des Arztes, einem nahezu schmerzfreien und normalen Leben stehe nichts im Weg.
Nicht der Körper ist das Problem, die Papiere sind es. Mit dem Ende der Behandlung wird Zohra das Recht entzogen, in Frankreich zu bleiben. Sie muss zurück nach Algerien, von wo sie damals geflohen war. Die Aufforderung zum Verschwinden nimmt Scheffner ernst und überträgt sie auf den Film, indem die Figur abrupt aus den Aufnahmen gedrängt wird. Stattdessen nimmt von da an anderes Personal den Bildraum ein, das die Frau um die 30 adressiert: der Cousin, die Schwester, die Mutter, die Mitarbeiterin von der Asylbehörde. Alle stellen sie rhetorische Fragen, die keine Antworten brauchen. Zohra bleibt stumm und unsichtbar, in ihrer Abwesenheit umso präsenter.
An den Grenzen

Wer darf unter welchen Bedingungen an welchen Orten auftreten? Damit beschäftigt sich Scheffner in diesem Film mit konzeptioneller Konsequenz. Er denkt über das Schlagwort der Sichtbarkeit nach, möchte sie als Ressource des Kinos verstehen, die umverteilt werden kann, umverteilt werden muss, und mit der sich prinzipiell aktivistisch umgehen lässt. Rhim Ibrir ist bereits in Havarie[LINK] von 2016 in Erscheinung getreten. In Europe, für den Scheffner zusammen mit der Autorin und Produzentin Merle Kröger das Drehbuch schrieb, wird aus der einstigen Erzählerin eine Schauspielerin, die virtuos an den Grenzen der Bilder operiert und zwischen Versionen von Zohra wechselt.
Dabei basiert die Geschichte auf Ibrirs Leben, sie lebt in der Stadt, in der der Film gedreht wurde. Die Menschen, die in Europe vor die Kamera treten, sind keine ausgebildeten Schauspieler*innen, sondern arbeiten in den Jobs, in denen sie gezeigt werden. Der Busfahrer fährt eben Bus in Châtellerault, kennt die Strecke, die Zohras Arbeitsstelle, den vom Cousin betriebenen Imbiss und das Schwimmbad verbindet, in dem die lädierte Wirbelsäule trainiert werden will. Dass der Dokumentarfilmer Scheffner nun einen solchen Spielfilm gemacht hat, markiert gar nicht den gewaltigen Bruch in seinem Werk, wie es zunächst den Anschein haben mag. Es bleibt die Lust an der akribischen Vorbereitung und das Interesse an allem, was sich nicht vollständig verstehen und auflösen lässt.
Die Eindeutigkeit unterlaufen
Der Umgang mit der Fiktion, in die sich Zohra zunehmend verstrickt, leitet sich daraus ab, wie dieses eine Europa Menschenrechte behandelt. Die Journalistin Isabel Schayani, die in den letzten Tagen empathisch von der polnisch-ukrainischen Grenze berichtete, hat einmal den schönen Satz gesagt: „Das Einzige, was uns trennt, ist der Zufall, wo wir geboren sind.“ Europe widmet sich dem, was nach dem Zufall passiert, und hebt die Künstlichkeit der Trennungen hervor, die Staatsangehörigkeiten herstellen. Die Eindeutigkeit, die dieses Schauspiel fordert, wird Zhora mit ihrem Rollenspiel unterlaufen. Am Ende von Scheffners Film schafft sie es zurück ins Bild, um doch aus ihm herauszufallen, weil sie sich mehrfach und immer wieder neu entwirft, als Ehefrau, Alleinstehende, Einsame, Reisende, Bleibende, Fürsorgende, als Mutter und als Kinderlose.
Drei Teile sind es, aus denen Europe besteht, der erste einer der Routinen, in dem dieselben Wege gegangen und dieselben Strecken gefahren werden. Der zweite Teil markiert die Abweichung in der Wiederholung, als Zhoras Anwesenheit in der Abwesenheit inszeniert wird. Nur die Stimme im Bus, die auf dem Weg zur Arbeit den nächsten Stopp ansagt, verspricht eine Kontinuität, die nicht existiert. Der dritte Teil dann, vielleicht der schönste wegen seinem Mut zur Verwirrung, spinnt Zukünfte und erprobt den Widerstand, den die Imagination bereithält, wie ein Blick aus dem Fenster, an deren Oberfläche sich jemand spiegelt, der ich sein soll, aber es nicht sein muss.
Wo die Lücken liegen

Ein Dreisprung, den Europe wagt, um Verhältnisse zu vermessen, Übergänge und Bewegungen zu organisieren. Scheffners Film pflegt einen offensiven Umgang mit Struktur, er kann gar nicht anders, sind die formalen Entscheidungen und verschiedenen Auflösungen der Teile, abgetrennt durch Schwarzblenden, doch so gewaltig, dass sich der Film in seiner eigenen Beschaffenheit dekonstruiert; ein Film also auch über die Frage, wie sich denn überhaupt Filme machen und Geschichten erzählen lassen, im besten Sinne didaktisch, weil er vom Andersdenken und Andersmachen lehrt, und damit ein ernstzunehmender Beitrag zur Frage ist, wie politisches Kino aussehen kann, das Kritik übt, sich aber nicht außerhalb des Feldes verortet, das es kritisiert, sondern dort hineinsetzt, weil es eben keine neutrale Position gibt und die Welt nur aus Perspektiven betrachtet werden kann, über deren Schnittmengen wir uns stetig verständigen.
Es sind die Lücken, die in Europe hervortreten, die Wege zwischen den Stationen, die aufeinander folgen und ein Leben scheinbar sortieren, es erzählbar machen. In diesen Lücken liegt etwas, für das die Sprache fehlt, das die Enge und Weite eines Raumes umordnet. Das Kino liegt vor der Haltestelle, die sich Europa nennt. Philip Scheffner fragt, in welche Richtung wir uns heute bewegen – mit einem Film, der nicht enden kann, weil wir seine Figuren sind.
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