Sommer 85 – Kritik

VoD: David und Alexis tanzen, aber nicht mehr zum selben Soundtrack. François Ozons Sommer 85 erzählt von zwei Jungen, die sich rauschhaft ineinander verlieben, aber auf eine jeweils andere Art.

Was für ein Auftritt! Im Zentrum der Aufnahme, in der sich Meer, Himmel und Felsen zu einem bedrohlichen Panorama aufschichten, nähert sich, majestätisch, von den Naturgewalten unbeeindruckt, ein kleines, weißes Segelboot. Darauf eine Silhouette in kühner Erobererpose, ein Fuß auf der Kante der Rumpfs: Auftritt David Gorman (Benjamin Voisin), 18 Jahre alt, in dieser weiten Aufnahme Herr der Elemente, Herr der Lage. Dann schneidet der Film zurück in die bedrängende Großaufnahme: Ungläubigkeit auf dem Gesicht des schiffbrüchigen Alexis (Félix Lefebvre), 16, der sich jämmerlich an sein gekentertes Boot klammert, Augen aufgerissen, Mund offen. Ungläubigkeit ob der unverhofften Rettung, aber auch ob der Schönheit dieses unverhofften Retters. Geradezu routiniert weist David Alexis an, sich zum Ruder hochzuziehen. Im knappen Badehöschen, hechelnd, kriecht Alexis auf den Rumpf, unfreiwillig reizend, den Hintern ausgestreckt. Die Rettung, die sexuelle Spannung: Sie drängen sich beide auf mit einer haarsträubenden Unvermitteltheit, die Rettung wie eine Anleihe aus einem schlechten Plot, die sexuelle Spannung wie eine Anleihe aus einem Porno; zusammengenommen ergeben sie eine großartige Szene.

Diese Liebe ist der Sommer

Sommer 85 ist eine Liebesgeschichte, nacherzählt von Alexis. Dass sie nicht gut ausgeht, steht von Anfang an fest: Wir begegnen Alexis in den Fluren eines Gerichts, in Handschellen. Da ist der Sommer vorbei, und David tot. François Ozons Versuch, über diesen Wissensvorsprung Spannung in die Nacherzählung zu bringen, wirkt bemüht; der anfangs gestiftete Irrglaube, Alexis habe David ermordet, unwesentlich. Denn Sommer 85 gebietet es geradezu, nicht vorauszudenken. Die Liebesgeschichte zwischen Alexis und David ist keine Geschichte von gemeinsam geschmiedeten Plänen und entworfenen Zukunftsvisionen, sie ist, wie der Titel eigentlich vorwegnimmt, auf jenen Sommer ’85 verdichtet, mehr noch: Diese Liebe ist der Sommer, und der Sommer ist diese Liebe. Sie entsteht im Hier und Jetzt und wird im Hier und Jetzt verbraucht.

Der Geschwindigkeit hinterher

Nach der Rettungsaktion bringt David Alexis zu sich nach Hause, für die Nachsorge sozusagen. Alexis wird ein heißes Bad eingelassen, er wird eingekleidet, eine Mahlzeit wird aufgetischt; über den höflich schüchternen Jungen ergießen sich die Komplimente von Davids ausgeflippter Mutter (Valeria Bruni Tedeschi): Ein prächtiges Geschlecht habe er, befindet sie, als sie ihn forsch fürs Bad auszieht. Die exaltierte Gastfreundlichkeit gleicht einem beschleunigten Initiationsritus, der Alexis in wohlige Üppigkeit und Freizügigkeit führt. Am Vormittag der Rettung wird er zum Freund erklärt, am Nachmittag schlagen ihm David und seine Mutter vor, in ihrem Geschäft zu jobben. „Warum Zeit verlieren? Wir sind alle sterblich“, entkräftet David Alexis’ Bedenken. Einen Tag später macht die Kamera behutsam Halt vor dem Schloss von Davids Zimmertür. „Es war die schönste Nacht meines Lebens“, sagt Alexis im Voice-over. Alles geht schnell, dafür umso intensiver, Geschwindigkeit ist in Sommer 85 ein zentrales Motiv. Als Alexis anmerkt, dass David mit dem Motorrad rast, legt der ihm seine Sicht der Dinge dar: Er habe nicht das Gefühl, schnell zu fahren; sondern der Geschwindigkeit hinterherzufahren, ohne sie je zu erreichen. Es kann gar nicht schnell genug gehen.

Im grobkörnigen Super-16-Format wiederbelebt Ozon den Sommer ’85: sinnlich und saftig, wie die blutroten Lippen von David nach einer Prügelei, die Alexis vorsichtig mit Alkohol abtupft, eine Vorwegnahme ihres ersten Kusses; in kitschigem, leicht verwaschenem Neon, wie in diesem Club, in dem David Alexis inmitten des tanzenden Pulks einen Walkman aufsetzt und in Alexis’ Ohren Sailing von Rod Stewart ertönt. Und sie tanzen, aber nicht mehr zu demselben Soundtrack: Während David zu Stringed Disco rumspringt, gibt sich Alexis den fließenden Bewegungen von Stewarts Ballade hin. Das absolute Synchronsein, die absolute Kongruenz der Liebe, des Begehrens, des Bedarfs am anderen: Sie sind vorbei.

Die Schönheit freilegen

Dass diese Liebesgeschichte ein übles Ende nehmen wird, das ahnte man auch ohne die erklärende Rahmenhandlung, in die sie eingebettet ist. Etwas Unheilvolles geht von David aus. In einer großartigen Szene bringt er, sehr zu Alexis’ Missfallen, einen Betrunkenen in Sicherheit. Dann klappt er einen länglichen Gegenstand aus, man wähnt ihn bereit zum Angriff, aber es ist kein Messer, sondern ein Kamm, mit dem er dem eingeschlafenen Mann liebevoll das Haar von der Stirn streicht und ein wohlgeformtes Gesicht offenbart. David, das versteht Alexis in diesem Augenblick plötzlich, ist allein von der Schönheit angezogen.

Calypso heißt das Segelboot, mit dem David Alexis rettet, wie jene Meernymphe, die sich in den schiffbrüchigen Odysseus verliebt und ihn gegen seinen Willen an ihrer Seite festhält. Sommer 85 erzählt von zwei Jungen, die sich rauschhaft ineinander verlieben, aber auf eine jeweils andere Art. Für immer, glaubt Alexis, überwältigt von der ersten großen Liebe; so lange, bis ihn Alexis langweilt, weiß David, der nur in der Abwechslung Sättigung findet.

Der Film steht bis zum 09.07.2024 in der Arte-Mediathek.

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