Ernest Cole: Lost and Found – Kritik
Raoul Pecks Dokumentarfilm Ernest Cole: Lost and Found nimmt das Leben des südafrikanischen Fotografen anhand verschollener Bilder in den Blick. Und spürt politisch existentiell einer Geschichte voller Abstände und Übergänge nach.

Gleich zu Beginn von Ernest Cole: Lost and Found beziffern Texttafeln die Distanz zwischen zwei Ereignissen: 50 Jahre liegen zwischen der Publikation von House of Bondage, dem Bildband Coles, der 1967 das Apartheidsregime seiner Heimat sichtbar und den südafrikanischen Fotografen im US-amerikanischen Exil schlagartig berühmt machte, sowie dem Fund von 60.000 seiner Negative, Unterlagen und Texte in einem schwedischen Banktresor.

Die generisch anmutende Ankündigung der Geschichte von dem, was dazwischen liegt – „as told by Ernest Cole himself“ –, zum Klang dramatischer Streicher weckt eine Erwartungshaltung, die der Film nur bedingt einlösen kann bzw. mag. Darin liegt die Qualität des Films, die ihn zu einer filmischen Antwort auf Coles Biografie werden lässt. 50 Jahre, das ist annähernd die Zeitspanne seines Lebens: geboren 1940 in Südafrika, 1990 verarmt und staatenlos gestorben in New York. „The total man does not live one experience.“ Das vorausgestellte Zitat Coles gilt nicht nur für ihn, sondern auch für den Film, in dem die Paranoia des Ungeklärten lediglich ein Teil ist und sich mit der Wut über das Ausgebliebene, der Trauer über den Verlust und der Faszination für das neu zu Entdeckende verbindet.

Die Regie Raoul Pecks und die Montage Alexandra Strauss’ konstellieren verschiedene Materialien und Zeiten: historische Archiv- wie auch neugedrehte Filmaufnahmen an Orten Südafrikas, ein Interview mit Leslie Malaisane, dem Neffen, der die Nachricht vom Archivfund in Schweden erhält. Und schließlich Fotografien: zentral die bekannten und unbekannten Bilder Coles aus Südafrika und den USA.
Eine Welt pluraler Perspektiven

Immer wieder verschiebt sich deren Kadrierung, bewegt sich der filmische Bildausschnitt. In der Beweglichkeit beginnen die Fotografien aus Südafrika eine Welt pluraler Perspektiven zu erschließen. Eine Welt der Schilder („Whites Only“), der verschiedenen Blicke und Körperhaltungen. Gewalt ist in diesem Film präsent lange vor expliziten Schilderungen von Folter und Misshandlung. Ausgefaltet wird ein alltägliches Spektakel der Apartheid in der Analyse eines Bildes, so systematisch wie spezifisch: Die verschiedenen Realitäten einer Situation offenbaren sich anhand der verschiedenen Blicke auf einen schwarzen Jungen, dem ein schwarzer Polizist eine Hand auf die Schulter gelegt hat. Die Konstellation mit drei schwarzen Frauen im Hintergrund, die passiv neugierig, etwas ängstlich, gar panisch schauen, dem jungen Mann daneben, der beruhigt ist, nicht das Opfer zu sein. Und schließlich dem weißen Herrn, der, die Hände in den Hosentaschen, unbeteiligt und gelassen, das Geschehen mit etwas Abstand von der Seite betrachtet.

Zu den verschiedene Abstandsverhältnissen, die den Film beschäftigen, zählen außerdem der Abstand der persönlichen Biografie zur Geschichte der Apartheid Südafrikas, wie auch der von Heimat zu Exil. Die Fotos, von denen Cole sagt, dass so viel von ihm selbst in ihnen stecke, wissen darum, auch da, wo sie nicht im Split-Screen montiert sind. Zum Beispiel die von einer Auftragsreise in den Süden der USA, bei der sich Cole mit politischen Erwartungen an seine Fotografien konfrontiert sah – Apartheid dort, Jim Crow hier.

Ebenso wie Pecks I Am Not Your Negro zum Schaffen James Baldwins ist Ernest Cole: Lost and Found ein Film der Stimme. LaKeith Stanfields matt gesprochener Voiceover erweist sich, spätestens vom Totenbett aus, als eine unmögliche Ich-Erzählung, die die Worte Coles und Pecks, beide hintereinander im Vorspann als Autoren genannt, verschränkt. Gespalten, aber nie eindeutig zuordenbar prägt Stanfields Voiceover große Teile des Films und bringt dadurch Cole umso mehr in den Blick.
Fotografieren als Umgang mit der Welt

Eindrücklich ist Coles Schilderung einer Fahrt nach Frenchdale, ein weit entferntes Verbannungslager, in dem Stimmen und Geräusche des täglichen Lebens abwesend sind und dessen monotoner Alltag nur durch den Übergang von Licht und Dunkelheit strukturiert ist; zurückgekehrt in das eingeschränkte schwarze Leben der Stadt Johannesburg fühlt Cole sich frei. Das Moment der relativen (Un-)Freiheit wird eng an die Exilerfahrung geknüpft, wenn Cole kurz darauf im Film Südafrika gen kapitalistischen Westen verlässt. Die politischen und auch existentiellen Dimensionen des Stoffes bekommt Peck über Himmelmotivik zu fassen. Einmal ist die Sonne aus dem Fenster seiner Unterkunft nicht zu sehen, ein anderes Mal wird New York als seelenlose Stadt bezeichnet, in der keiner zum Himmel schaue. Kurz darauf liegt Cole im Sterben. Über seinem Grab in Südafrika geht die Sonne unter.

Cole sammelt mit seinen Fotos Beweise der Existenz, sein Fotojournalismus erscheint als Kunst, das Fotografieren ist für ihn ein Umgang mit der Welt. Der Film endet mit den letzten Bildern, die Cole lange vor seinem Tod gemacht hat: von „lost souls“ und „empty useless bodies“, Bilder von Obdachlosen, auf einem eine große Reklame für Hauskredite im Hintergrund. Dann ein letzter Blick in die Kamera: „Yes, I do see you”. Es ist eine von mehreren zentralen Formulierungen oder Aussagen, die im Film zu hören sind und in ihrer Wiederholung einen neuen Sinn erhalten. „I see you everyday“ etwa dient als Auftakt zu New York-Fotos unterschiedlicher Menschen, die, so Stanfields Stimme aus dem Off, von anderen vielleicht übersehen werden: eine Vielfalt von Kindern, Frauen und Männern, in Gruppen oder einzeln, sitzend, stehend, schlafend oder schauend. Die letzte Wendung von Ernest Cole: Lost and Found zielt nicht auf die Entdeckung eines unbekannten Künstlers, auf erstmaligen Ruhm und Anerkennung, sondern ins Off, auf die Möglichkeit, den Blick des Fotografen neu erwidern zu können. „Yes, I do see you”.
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