EO – Kritik
VoD: Ein melancholischer Esel in Nahaufnahme oder als Silhouette, die Welt aus seiner Perspektive oder wie der Film sie sich vorstellt: Regisseur Jerzy Skolimowski nimmt sich in seinem Spätwerk EO alle Freiheiten.

EO hat abgetragenes, graues Fell und dunkle, tiefe Augen. Die Ohren sind keck abgecknickt und stehen an den Seiten ab. Er ist ein melancholischer Esel, dem Tod auf der Bühne näher als dem Leben. EO schläft und wird von seiner Trainerin Kasandra (Sandra Drzymalska) wachgeküsst, die ihn unter rotem Stroboskoplicht und einer zirkulierenden Kamera wieder auferstehen lässt. Es ist eine der auffallendsten Sequenzen in einem Film, der sich seine Sensationen nimmt. Aber lasst noch etwas beim Esel bleiben. Er hat sehr dünne Beine, die, wenn er trabt, fast schon elastisch nach vorne und nach hinten klappen. Man fragt sich, wie diese Beine so viel Gewicht halten können, aber sie geben doch niemals nach.* Manchmal erhaschen wir eine Aufnahme aus seiner Perspektive, oder jedenfalls so, wie Regisseur Jerzy Skolimowski sich diese Perspektive vorstellt. Die Kamera ist in der Hand gehalten und wackelt durch die Welt. Die Ränder des Bildes sind verschmiert und aufgeweicht, aber die Mitte ist klar und fokussiert.
Die schönsten Drohnenaufnahmen

Nachdem er von dem Zirkus gepfändet wird, beginnt EOs Odyssee. Die zentrale Bewegung des Films – philosophisch und ästhetisch – ist dabei nach draußen, eine Veräußerung. Wo immer EO hinkommt, begegnet er einer Welt. Der konstruierten Klassengesellschaft des Reitstalls mit seinem prunkhaften Dressurpferd, dem er als Packesel unterstellt ist, aber mit dem er sich doch dieselbe Unterkunft teilt. Das genauso leidet wie er, aber an anderen Erwartungen und Aufgaben. Der Wald als Schauerort mit vergessenen Friedhöfen und den Füchsen und Eulen, die sie unter den Laservisieren der Jäger heimsuchen. Das Lokalderby eines ländlichen Fußballclubs mit seinen Ritualen und gewalttätigen Konsequenzen. Der intereuropäische Fleischhandel durch die Augen eines Truckers, der Klischee ist und dennoch menschlicher, was ihm aber auch nicht davor bewahrt, mit aufgeschnittener Kehle zu enden. Die idyllische Villa einer Contessa (Isabelle Huppert, die auch wieder Diva sein darf, genervt die Nase rümpft und ein paar Teller zerschlägt) und ihres Priesters, der vielleicht ihr Bruder, vielleicht ihr Liebhaber, vielleicht beides ist. Es ist immer möglich, innerhalb dieser Welten Kontakt aufzubauen, aber EO – Film und Protagonist – fühlt sich den Tieren dabei etwas näher als den Menschen.

Skolimowski filmt den Esel in Nahaufnahmen, oftmals im Halbschatten oder gänzlich als Silhouette. Aufnahmen, die eine Neugierde zeigen, aber auch Grenzen ziehen, Privatheit etablieren. Die Sensation ist in der Technik und wie diese Naturerfahrung erzeugt. So gibt es in diesem Film vielleicht die schönsten Drohnenaufnahmen, die ich bisher gesehen habe. Kasandra findet EO auf einer Farm und übergibt ihm seinen letzten Möhrenmuffin, bevor sie sich für ihren Freund und gegen ihren Esel entscheidet. EO bricht aus und versucht ihr zu folgen, verliert sich aber im Wald. Nach seiner Flucht sieht er den blutroten Sonnenaufgang, und das Bild tränkt sich ebenfalls in Rot, verlässt seine Perspektive (oder öffnet diese nur weiter?) und geht über in drei Drohnensequenzen. Eine vertikale Kamerafahrt lässt einen tiefer in den Wald gleiten, vorbei an Baumwipfeln und durch den aufsteigenden Nebel. Man folgt einer Quelle, wie sie zum Fluss wird und in das Tal hinabdrängt. Die Kamera beschleunigt mit ihr. Ein Schnitt bringt sie wieder in die Luft und lässt sie sich einer Windturbine annähern, deren Rotation sie antizipiert und nachahmt. Der Gegensatz zwischen der Bewegung des Flusses und der Bewegung der Turbine und doch der Versuch, beide zu naturalisieren, beide erfahrbar zu machen, ohne sie zu werten, das ist Kino.
Erst wenn alles gesagt wurde, darf man auch schweigen

EO, nominell ein Remake von Zum Beispiel Balthasar (Au Hazard Balthasar, 1966), mit dem es ungefähr so viel teilt wie mit Donkey’s Christmas Shrektacular (2010), also einen Esel, ist das, was modern gerne als late film bezeichnet wird. Ein Spätwerk eines gestandenen Regisseurs, der sich hier mehr Freiheiten rausnimmt und weniger an den Konventionen erzählenden Kinos interessiert ist. Wie so oft ist das sowohl richtig als auch zu eng gefasst, verstärkt nur die Grenzen zwischen Avantgarde und Arthouse, Kunstkino und Kommerz, die man eigentlich zerstören will. Dasselbe hätte man bereits über Skolimowskis Essential Killing (2010) schreiben können, der jedoch weitesgehend ignoriert wurde. Und doch ist hier diese Freiheit, dieser unbedingte Wille, in Bildern zu erzählen. Das bedarf eines gewissen Alters. Erst wenn alles gesagt wurde, darf man auch schweigen. Kino ist hier das, was Jean-Marie Straub mit Lichttonmischung meinte und Roger Ebert mit seiner empathy machine. Beide Ansätze greifen ineinander, bestärken sich in ihrer ästhetischen, moralischen und politischen Haltung. Ein Film, der einen zu einem besseren Menschen machen kann. Wenn man ihn denn lässt.
* Eine Freundin verriet mir, dass Pferde eingeschläfert werden, wenn sie sich ein Bein brechen. Die Körpermasse ist zu schwer, sodass die Wunde nicht heilen kann. Der heilende Knochen würde sich nur weiter durch den Huf herausdrücken, was unsägliche Schmerzen verursacht. Ich habe nicht recherchiert, wie es sich mit Eseln verhält, aber ahne Ähnliches.
Der Film steht bis zum 04.12.2025 in der Arte-Mediathek.
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