Lieber Antoine als gar keinen Ärger – Kritik
VoD: Ein unschuldig Inhaftierter zieht nach seiner Entlassung eine Blutspur durch die Stadt, beißt Ohren ab und hinterlässt Chaos. Pierre Salvodoris Komödie folgt ihm und gaukelt uns dabei allerhand vor.

Lieber Antoine als gar keinen Ärger beginnt da, wo sich das Prinzip des Films abspielt: in der Erzählung. Da also, wo das Erzählte und der Erzähler gemeinsam auftreten, wo das Erzählte durch den Erzähler gleichermaßen Echtheit und Künstlichkeit erlangt. Die allererste Szene des Films zeigt die letzte Szene der Geschichte, die Yvonne (Adèle Haenel) gerade ihrem Sohn Théo vorm Schlafen erzählt. Im Grunde beginnt der Film also auch mit einem Ende: „So, das war’s“, erklärt Yvonne und lässt die Geschichte vor einer geschlossenen Tür enden. Doch dieses Ende ist verhandelbar – „Nein, noch fünf Minuten. Bitte!“, protestiert Théo –, und prompt wird das Versprechen des Erzählens erneuert, dass jede Tür eingeschlagen werden und dass sich jedes Szenario zutragen kann.
Ausgebrochen

Dabei geht es nicht um Eskapismus. In Lieber Antoine als gar keinen Ärger erzählt man sich keine Geschichten, um der Realität auszuweichen, sondern um sich ihr zu stellen. So kreisen Yvonnes Gute-Nacht-Geschichten stets um einen Polizeieinsatz ihres vor zwei Jahren im Dienst verstorbenen Mannes Jean Santi (Vincent Elbaz). Dass die Rekonstruktion heroisch-komisch ist und Pierre Salvadori das Genre ordentlich auf die Schippe nimmt, täuscht nicht über den Umstand hinweg, dass diese Geschichten einen essenziellen Beitrag leisten zu Théos Trauerarbeit. Doch die Wirklichkeit erschüttert die Fiktion. Durch einen haarsträubenden Zufall erfährt Yvonne, dass ihr Mann korrupt war und ihr gemeinsamer Reichtum – bis hin zu ihrem Verlobungsring – auf dreckigen Deals begründet. Prompt ist der Ring in der Toilette runtergespült. Doch jetzt bedarf es eines neuen Storytellings. Denn ein kleiner Junge hat die heldenhafte Vaterfigur verloren, eine Frau das Andenken an ihren rechtschaffenen Mann und Antoine (Pio Marmaï) ganze acht Jahre Freiheit. Den hatte Santi bei einem Versicherungsbetrug zu Unrecht verurteilen lassen.

Auch bei Antoine ist die Kraft des Wortes – hier: des gesprochenen Urteils – am Werk. Denn nach acht Jahren Freiheitsentzug ist der Unschuldige verroht und nicht mehr ganz bei Sinnen. Frisch entlassen zieht Antoine eine blutige Spur durch die Stadt, beißt Ohren ab, hinterlässt Chaos und Verwüstung. Bald hat der junge Mann nur noch eine fixe Idee: die Wirklichkeit der Fiktion anzupassen und das Verbrechen zu begehen, das er abgegolten hat. Unterdessen nimmt Yvonne eine fiktive Identität an, um auf ihn achtzugeben. En liberté heißt der Film im Original, zu Deutsch etwa: frei. En liberté, das kann man auch über aus dem Gefängnis ausgebrochene Verbrecher oder aus dem Zoogehege ausgebrochene Tiere sagen, und in der Tat ist Lieber Antoine als gar keinen Ärger die Geschichte einer unbändigen Energie, die sich, einmal freigesetzt, unaufhaltsam Bahn bricht durch eine Außenwelt, zu der sie nicht gehört; eine Energie, die aneckt, verprellt, zerstört. Wie eine Flipperkugel jagt Salvadori Antoine durch den Film.
Das Spiel mit der Künstlichkeit

Dass das Setting reichlich Stoff für ein Drama anbietet, ist unbestreitbar. Salvadori allerdings lädt das Thema Wiedergutmachung zunächst komisch auf und amüsiert sich erst mal mit den Antoine von Yvonne persönlich zugesprochenen „Recht auf Wut und Gewalt“. „Lieber Arschloch als Opfer“, lautet die Devise. Dabei haftet der Gewalt und dem Gesetzesbruch in Lieber Antoine als gar keinen Ärger stets etwas Künstliches und Lächerliches an, das sie abfedert und das witzigerweise durch äußerst bodenständige Details hervorgerufen wird. Die Komik überwiegt, als Antoine einen Tabakhändler überfällt, aber seine improvisierte Vermummung ihn daran hindert, sein Anliegen verständlich zu artikulieren. Ein gleichermaßen lachhaftes und trauriges Bild gibt Antoine ab, als er nach dem Überfall eine Zigarette raucht und der Qualm aus den für die Augen zugeschnittenen Löcher der Maske quillt. Salvadori dekonstruiert Kinderhelden, den tapferen Cop, aber auch den Ganoven. Vergnügt verweist er auf die Künstlichkeit seiner Actionszenen, sei es, indem er den Erzähler sichtbar in das Erzählte eingreifen lässt oder – in einem Meta-Schritt zurück – drei Wachen reale Geschehnisse auf ihrem Überwachungsbildschirm wie eine Soap Opera verfolgen lässt, samt Gefühlsduselei und tränenreichem Mitbangen. In Lieber Antoine als gar keinen Ärger ist die Fiktion immer zum Greifen nahe, buchstäblich: eine Plastiktüte, aus der man rudimentär eine Maske bastelt, einen Rock, den man hochkrempelt in der Hoffnung, als Hure durchzugehen. Der Film zelebriert das Vorgaukeln, das Inszenieren.
Das Wahre im Faken

Fiktion und Wirklichkeit finden in Lieber Antoine als gar keinen Ärger ein harmonisches Miteinander: der väterliche Superheld und die Traurigkeit eines verwaisten Jungen, die Mär vom freien Halunken und die Ernüchterung nach acht Jahren gestohlener Lebenszeit. Vielleicht liegt es an diesem Nebeneinander, dass der Film es schafft, zwei Register gleichzeitig – oder zumindest abwechselnd – erfolgreich zu mobilisieren, gleichermaßen zu amüsieren und zu rühren. Denn er mag – mit einigem Erfolg – herumalbern, auf Glaubwürdigkeit pfeifen und es sich in der fulminanten Überspitzung bequem einrichten, er legt in seiner fortwährenden Deplatziertheit eine Traurigkeit frei, die weder übertrieben noch verfremdet ist. „Es war Fake, aber es war schön“, sagt Antoine zum Schluss, als Yvonnes Lüge auffliegt; eine Losung, die nicht nur den Kern dieses Films trifft, sondern vielleicht auch dem Wesen des Kinos nahekommt.
Den Film kann man in der Servus-TV-Mediathek streamen.
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