Eine Stadt der Traurigkeit – Kritik

Die zweite Wunschkritik unserer Abonnenten: Der Handlungsmittelpunkt liegt nie im Bild, das Abwesende ist immer da. In Eine Stadt der Traurigkeit – Familienepos, Gangsterdrama, Historienfilm – zeigt sich Hou Hsiao-Hsien als ein Meister des Entzugs.

Eine Stadt der Traurigkeit: Ich kriege den Titel nicht aus dem Kopf, er thront über den Bildern, als wollte er sie sich gefügig machen, als könnte er sie gar umschließen, doch sie widersetzen sich. Ein Stromausfall, ein Mann, der herrisch wird, weil es da einen Prozess gibt, den er nicht kontrollieren kann. Er läuft umher in seinen vier Wänden, ruft einer Frau zu, sie solle sich beeilen, doch das tut sie längst. Sie füllt Wasser in einen Eimer, Schritt für Schritt, nicht überhastet, aber schnell. Sie weiß, was sie tut. Er wirkt rastlos. Nebenan, im Zimmer, das er nicht betritt, wird gerade ein Baby geboren, seins. Wenn der Strom einige Augenblicke später wiederkehrt, kümmert er sich um den Lichtschein einer Lampe. Der Name des Kindes wird sich von Licht ableiten.

Die Geschichte ist das, was nebenbei passiert

Hou Hsiao-Hsien setzt mit einer Szene der Ungleichzeitigkeit ein. Eine Stadt der Traurigkeit (Bei qing cheng shi, 1989), der Film, der für den taiwanesischen Regisseur den internationalen Durchbruch bedeutete, nicht zuletzt dank der Auszeichnung mit dem Goldenen Löwen in Venedig, ist ein Familienepos, ein Gangsterdrama, ein Historienfilm und ein Werk betörender Distanz. Während das Baby von Wen-heung (Chen Sung-young), dem ältesten Bruder der Familie Lin, geboren wird, läuft eine Ansprache über das Radio: Japan kapituliert, der Zweite Weltkrieg endet. Gleich ist klar: Die Geschichte ist das, was nebenbei passiert.

Wen-heungs Rastlosigkeit wirkt nicht politisch motiviert. Vielmehr ist sie symptomatisch für einen Film, dessen Handlungsmittelpunkt immer irgendwo außerhalb des Kaders zu liegen scheint, ungreifbar, unerreichbar. Ob durchs Radio, durch Erzählungen, durch Geräusche aus dem Off, durch Briefe oder Geschenke: Das Abwesende ist immer da, mittendrin, man kann es nicht verpassen. Das spiegelt sich in der Familienkonstellation: Ein Bruder ist verschollen, einer kommt seelisch angeschlagen aus dem Krieg zurück, und einer, das Herz und die Seele der Familie, kann weder hören noch sprechen. Wenn sie da sind, dann nie ganz und unmittelbar, jedenfalls nicht für Wen-heung, der, aufbrausend, wie er ist, eine Übersetzung gerade der leiseren Töne braucht. Wie kann man da zur Ruhe kommen?

Die Kamera bleibt im Gang zurück

Selbst in den wenigen Momenten der Action, der physischen Auseinandersetzung sorgt Hou mit verblüffenden formalen Arrangements dafür, dass es zu keiner Erlösung im Bild kommt. Wen-leung (Jack Kao), der dritte, aus Shanghai zurückgekehrte Bruder, stürzt sich ins Schmuggelgeschäft mit einer Reihe an zwielichtigen Figuren, die den einen oder anderen Zwist provozieren. Ein solcher Kampf, der in großer Nähe zur Kamera an einem Pissoir beginnt, mündet kurzerhand in eine Verfolgungsjagd durch das Lokal der Familie: Mit großen Bewegungen rennt der eine Mann dem anderen hinterher, beinahe sieht es nach Slapstick aus, doch dann biegen auch schon beide um die Ecke, während die Kamera im Gang stehen bleibt. Eine Beobachterin, und zwar keine, die dauerhaft einen allzu privilegierten Blick auf das Geschehen gewährt.

Ich brauche lange, um zu verstehen, dass die Traurigkeit des Films auch, vielleicht sogar primär eine ist, die durch Abwesenheit und Ausgeschlossensein entsteht. Aspekte, die der Film vor allem formal nachstellt. Zu dem narrativ-psychologischen Leid der Figuren, ihrem Verlust, ihren Sorgen und Ängsten bleibt der Zugang dagegen sehr bruchstückhaft. Zwar steckt in der Erzählung von den Brüdern viel davon, doch ich beginne sie erst nach mehrmaliger Sichtung halbwegs zu entschlüsseln. Die Form, die Hou wählt, ist eine, die Zusammenhänge nie betont, im Gegenteil. Den Wendungen und dramatischen Zuspitzungen – vor allem im Zusammenhang mit den illegalen Geschäften von Wen-leung – widmet sich Hou mit schöner Sorgfalt. Doch weder die Gewalt noch die damit verbundene Aufregung bekommen den Raum dafür, den Film in seinem Gestus umzustülpen.

Eine schöne, melancholisch-aufgeräumte Rast

Hou ist ein Magier des Entzugs, der einem in jedem Augenblick vor Leben und Atmosphäre berstende Totalen schenkt, sie dabei so zurichtet, dass sie gleichzeitig räumliche und emotionale Tiefe ausstrahlen und doch immer so beiläufig in Bewegung bleiben, dass sie ständig am Entgleiten sind, in die Vergangenheit. Bald schon (oder immer schon) ist alles bloße Erinnerung, bei der kaum mehr zu unterscheiden ist, ob das eben ganz klein, ganz groß, dramatisch, ergreifend, trivial oder komisch war. Die erzählerische Mechanik, die bei Hou in den vielen langen Einstellungen kaum einmal sichtbar wird, ist eine der Verschränkung der Ebenen.

Im einen Augenblick sitzen sechs Männer und eine Frau in hellen Hemden um einen Tisch herum, sprechen über Zigarettenschmuggel, Korruption, wie die Japaner sie zu Sklaven gemacht hätten, den Schaden, den China in Taiwan angerichtet hat und das grassierende Profitinteresse. Im nächsten Augenblick und noch im gleichen Raum hören Hinomi (Xin Shufen) und der gehörlose Wen-ching (Tony Leung) das Folkstück „Loreley“ auf dem Plattenspieler, schreiben sich kleine Zettel darüber, wie es von der deutschen Sage inspiriert ist, von Sirenen und der Gefahr, die sie ausstrahlen, und erleben eine reizende Intimität. Hinomi und Wen-ching sind so etwas wie der Anker des Films – nicht die nominellen Hauptfiguren, aber bei ihnen findet der Film eine schöne, melancholisch-aufgeräumte Rast. Bevor es weitergeht und auch das zur Erinnerung wird an Eine Stadt der Traurigkeit.

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