Eine Nacht in Helsinki – Kritik

Drei sehnsüchtige Männer in einer geschlossenen Bar: Auch wenn Mika Kaurismäki in seinem neuen Werk keinen Corona-Film sehen will, wird Eine Nacht in Helsinki doch erst im pandemischen Licht besonders.

Die Filmemacher Aki und Mika Kaurismäki betreiben in Helsinki eine Bar namens „Corona“. Der Laden im Viertel Konepaja ist durch eine Verschränkung von industrieller und klassisch-gemütlicher Ausstattung, zahlreiche Billardtische und eben das namensgebende mexikanische Bier geprägt. Als sich nun zum Namen der Bar und des Getränks ein pandemisches Virus gesellte, machte Mika aus der Not eine Tugend: Er drehte seinen neuen Film ebendort, wo kein Bier mehr ausgeschenkt werden kann, in jener Einsamkeit, der seine Protagonisten im Film ausgesetzt sein werden. Mit Eine Nacht in Helsinki beendet er zudem eine lose Trilogie über die Schicksale von je drei finnischen Männern. Männer, die ohnehin lieber Rotwein trinken als Corona.

Erbarmen am 1. Mai

Ein Prolog stellt uns der Reihe nach Heikki (Pertti Sveholm), einen Kneipier, Risto (Kari Heiskanen), einen Arzt, und Juhani (Timo Torikka), einen Beamten im Helsinkier Sozialamt, vor. Der Originaltitel des Films lautet Yö armahtaa, was sich als „Habt Erbarmen“ übersetzen lässt. Wenn über den Film hinweg immer wieder Menschen in Heikkis Bar auftauchen und er ihnen schließlich Obhut gewährt, obwohl er wegen des Infektionsschutzes eigentlich nicht dürfte, lässt das in Verbindung mit dem Originaltitel und einem ständigen Kerzenlicht an das christliche Weihnachtsfest denken. Die Nacht aus dem deutschen Titel ist aber nicht der 24. Dezember, sondern der 1. Mai. „Vappu“ ist in Finnland der Tag der Studenten und der Arbeiter.

So trägt Juhani die traditionelle, weiße Kappe der finnischen Studentenschaft, als er in die Bar zu Risto und Heikki kommt, die dort über ihr Leben lamentieren. Er muss sein Mobiltelefon laden und bittet Heikki um Einlass. Seine Tochter entbinde gleich, sagt er. Wegen der Pandemie könne er nicht bei ihr sein, so wolle er doch wenigstens erreichbar bleiben. Wirt Heikki, Typ gutmütiger Bär, lässt ihn schließlich gewähren. Die Geschichte kommt ihm zwar fantastisch vor, aber sollte sie doch stimmen, möchte er nicht im Weg stehen. In ausgesuchter Gemächlichkeit folgt der Film seinen Figuren durch die halbdunkle Bar. Lässt sie laut denken, fluchen und in ihrer Melancholie baden.

Ähnliche Sehnsüchte

Als Risto und Heikki herausfinden, dass Juhani in der Tat gelogen hat, haben sie ihn schon über ein Glas Rotwein zu ihrem Freund erkoren. Dass die Geschichte, die den Beamten mit der matrosenhaften Mütze tatsächlich in die geschlossene Bar treibt, ungleich düsterer ist, beichtet er ihnen dann auch. Pertti Sveholm, Kari Heiskannen und Timo Torikka spielen in nordischer Schnörkellosigkeit – und vielleicht ein wenig sich selbst. Mit ihren Figuren teilen sie ein Alter, so fortgeschritten, dass sich eine gefährliche Gesetztheit breitgemacht hat, und doch zu jung, um aufgegeben zu haben.

Die drei stellen fest, dass sie an ähnlichen Sehnsüchten leiden. Risto fühlt sich fehl am Platz in einer Familie und mit einer Frau, der er gerne wieder nahe wäre, Juhani hat aus Zuneigung Schuld auf sich geladen, für eine Beziehung ohne Zukunft, und Heikki kann die Bar nicht weiterführen, die er in der Tradition seines Großvaters leitet. Alle drei empfinden ihre Berufe als gesellschaftlich wichtig, und wissen doch nicht, ob sie richtig handeln. Sie wissen, was sie wollen, und können es doch nicht erreichen. Das wird ihnen in der Nacht des 1. Mai, während Studenten gegen den Lockdown anfeiern, in der Stille von Heikkis Bar und angewärmt durch seinen Rotwein schmerzlich und ehrlich bewusst.

Zeitlose Pandemie

Mika Kaurismäki wolle nicht, dass „Leute denken, es wäre ein Corona-Film“, sagte er in einem Interview. Der Film sei in dieser Zeit verankert, aber die Probleme, die seine Protagonisten hätten, seien zeitlos. Zurecht kann man sich da fragen: Hat Kaurismäki vor lauter Zeitlosigkeit die Diversitätsdebatte verschlafen, dass er all die Leinwandzeit auf die Rente zugehenden, mittelständischen weißen Männern widmet? Und wenn nicht – wollte er den Wecker nicht hören?

Der selbstreflexive Abgesang auf die drei Männer führt immer wieder – besonders wenn dann doch noch andere Menschen das Kammerspiel betreten – zu rührenden und feinsinnig improvisierten Szenen. Gleichzeitig straft Eine Nacht in Helsinki seinen Regisseur Lügen: Denn was ihn besonders und stellenweise tatsächlich universell macht, ist dann eben doch Corona. Dort treffen die Schicksale der Männer wirklich auf die der Zuschauerinnen und Zuschauer, dort weist er über sich selbst hinaus. Denn das ist vielleicht eine der größten kollektiven Erfahrungen der Pandemie: zu wissen, was man will, und es doch nicht erreichen können.

Andernfalls müssten wir schon genau hinsehen, um mehr als einen generischen Singsang über Moral und Dialoge aus der Alltagshölle einer Midlife-Crisis zu erkennen. So porträtiert Eine Nacht in Helsinki seine Zeit, in der Stille und Krise nahe beieinander wohnen.

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