Dora oder Die sexuellen Neurosen unserer Eltern – Kritik
Es lebe das Es: Als anregendes Gedankenspiel, aber auf Kosten ihrer Protagonistin legt Stina Werenfels den Finger in unsere verklemmte Wunde namens Sexualität.

Zunächst wähnt man sich in einer jener hierzulande nicht seltenen Filmproduktionen, in denen ein bestimmtes Thema mit allerlei Deutlichkeit und sich frech und frisch gebendem, aber dann doch eher biederem Witz behandelt wird. Heute: Sexualität bei Menschen mit Lernbehinderung. Wie der Titel schon sagt, nimmt Regisseurin Stina Werenfels hier vor allem die Eltern in den Blick, die auf die erwachende Sexualität ihrer 18-jährigen Tochter Dora (Victoria Schulz) nach Absetzung ihrer Medikamente tatsächlich ziemlich nervös bis neurotisch reagieren. Das alles scheint dramaturgisch vorhersehbar und recht harmlos abzulaufen, nach einer spannungsfreien Aufzählungslogik: Und dann kommt die Szene, wo Dora ihrem Vater einen Zungenkuss geben will; und dann die, in der sie sich in der Badewanne anfasst, und so weiter. Da darf auch die obligatorische mütterliche Beruhigung „Du bist nicht behindert, du bist eben ... anders“ nicht fehlen. Doras Antwort: „Ich will aber ganz normal sein, so wie Maria!“ Und Maria ist – welch Clou! – eine Afrodeutsche.

Doch derlei bemühte Diversity-Ethik gehört noch zur biederen Einführung, kommt vor dem späten, aber dafür umso härteren Plot Point, der weniger ein Punkt ist als eine Raketenstartrampe, von der aus Dora in schwindelerregende Fallhöhen geschossen wird. Zwar wird der Film seine Deutlichkeit nicht mehr los. Was Werenfels da aber in aller Deutlichkeit sagen und erzählen will, das ist dann doch allerhand und geht hinaus über die gemütlichen Infofiktionen des deutschen Förderkinos. Dora ist kein Inklusionsdrama; die Differenz will es nicht integrieren, sondern mit ihr das Zentrum erschüttern.
Peters Pimmelchen

Denn Dora wird vergewaltigt, von Peter (Lars Eidinger); und weil Dora das zwar ein bisschen wehtut und irritiert, aber auch ganz gut zu ihrem durch die Exposition hinreichend belegten Begehren nach intimer Körperlichkeit passt, spielt sie die ihr zugedachte Opferrolle nicht mit. Vor der Polizeibeamtin spricht sie amüsiert von Peters „Pimmelchen“, die verzweifelten Versuche der Eltern, ihre Tochter zu einer Anzeige zu bewegen, scheitern an einer nun ganz und gar von ihren Lüsten ergriffenen Dora, die Peter bald wiedertrifft und mehr will. Aus dem Übergriff wird eine Affäre. Und das ist nicht nur auf Handlungs-, sondern auch auf Rezeptionsebene ein ziemliches Wagnis: Wenn Dora nämlich das ist, was man in der Filmtheorie mal als „Identifikationsfigur“ zu fassen versucht hat, ihre Wünsche, ihre Empathien sich also in irgendeiner Form auf uns übertragen sollen, dann wird unser psychologischer Apparat hier ganz schön durchgeschüttelt. Die zwei äußersten Subjektextreme eines moralisch hoch aufgeladenen Diskurses – der Vergewaltiger und die besorgten Eltern – tauschen mal eben die Rollen. Ersterer verhilft einem Mädchen zur Selbstfindung, Letztere verfransen sich in immer absurderen Formen der Bevormundung. Und das ist tatsächlich eine unbehagliche, aber anregende Konstellation: Ausgerechnet durch die 18 Jahre lang tolerierten und liebevoll erfüllten Wünsche der so vertrauten Tochter kommt den Eltern vollständig die Diskurshoheit über ein irgendwo doch eindeutig geglaubtes Thema abhanden. Und damit auch uns selbst.
Dora und wir

Man sieht bald: Es geht Werenfels ums Ganze. Es geht nicht nur um Tabus, sondern um die vermeintliche Normalität und die schwer auszuhaltende Differenz, es geht um Sexualität und Gesellschaft, es geht überhaupt um Freiheit und Zwang und die Grenze dazwischen. Das Problem dabei ist, dass Dora Figur und Funktion zugleich sein muss; dem realistischen und ziemlich erstaunlichen Schauspiel von Victoria Schulz steht das manipulative Spiel des Films selbst gegenüber – ein Problem, das jenen altbekannten des ethnografischen Films gar nicht mal unähnlich ist. Hinter dem vermeintlich ungezwungenen und spielerischen Umgang mit Behinderung lauert dann doch wieder eine Vereinnahmung. Dora schreit Aua oder Juhu, sie kennt kaum Ambivalenzen, weiß genau, was sie will und nicht will, das einzige Problem ist, dass andere meinen, es besser zu wissen. Weil ihr das Über-Ich fehlt, kann sie die Rolle des Verdrängten übernehmen, das hervorbricht, sobald man die Pillen absetzt. Weil sie nicht zerrissen ist, sondern nur von außen zerrissen wird, ist sie eine allzu perfekte Figur für einen Film, der sich immer wieder an die Stelle ihres Reflexionsvermögens setzen kann.

Das ist kein reparaturbedürftiger Aspekt des Films, sondern sein produktiver Kern. Gerade weil bei Dora Zwang und Freiheit so klar getrennt werden können, müssen „wir“ darüber nachdenken, wie das eigentlich bei „uns“ ist. Und um dieses „uns“ wiederum denken zu können, brauchen wir Dora als Anderes, als Unverklemmtes. Den inklusionswütigen Begriff von Differenz tauscht Werenfels gegen den eines radikalen Außen ein. Damit verliert diese Unverklemmtheit ihre Kraft innerhalb des Films und bleibt dem gesellschaftlichen Feld enthoben, wird zur Leerstelle oder zur Utopie am Horizont: gute, alte polymorph-perverse Natürlichkeit. Ist das am Ende doch der Weg zur Freiheit?
Und wie kommen wir da jetzt raus?

Zur Einsicht, dass auch unsere Gelüste und Bedürfnisse keiner reinen Logik des rationalen Wollens oder Nicht-Wollens, keiner klaren Trennung in Fremd- und Selbstbestimmung folgen, kommt der Film jedenfalls nicht. Dora tauscht die Pathologisierung seiner Hauptfigur gegen die Psychologisierung des Gesellschaftlichen aus, das hinter Neurosen verschwindet. Schon klar mit unserer Verklemmung, aber was steckt dahinter? War das wirklich mal anders, und wenn ja, wann und warum? Wem kommt zugute, dass es so ist, wenn es anders doch eigentlich alle schöner finden müssten? Wie kommen wir da raus? Dora erlaubt einen Befund, aber keine Diagnose. Für eine Therapie ist er allerdings schon mal der interessantere Ansatz als die üblichen Empowerment-Narrative, die immer nur direkt dorthin führen, wo dieser Film wenigstens rauskommen will.
Neue Kritiken

Mein 20. Jahrhundert

Caught Stealing

Wenn der Herbst naht

In die Sonne schauen
Trailer zu „Dora oder Die sexuellen Neurosen unserer Eltern“

Trailer ansehen (1)
Bilder




zur Galerie (7 Bilder)
Neue Trailer
Kommentare
Es gibt bisher noch keine Kommentare.