Disco Boy – Kritik

Berlinale 2023 – Wettbewerb: Franz Rogowski sieht im tranceartigen Fremdenlegionärs-Drama Disco Boy einen Geist, ehe er selbst zu einem wird.

Ganz zum Schluss des Films beginnt der über lange Zeit dressierte, disziplinierte Körper des Fremdenlegionärs zu zucken. Immer wilder werden seine Bewegungen – das Leben bricht aus ihm heraus, in Form eines zügellosen Tanzes. Die Rede ist natürlich von Beau Travail (1999), dem Fremdenlegionärs-Drama von Claire Denis, mit dem unvergleichlichen Denis Lavant in der Hauptrolle. Ähnlich wie Lavant hat sich auch Franz Rogowski zu einem Schauspieler entwickelt, der eine Art Vollkaskoversicherung für RegisseurInnen darstellt – sei es in Luzifer (2021), Victoria (2015), Undine (2020) oder Love Steaks (2013). Und wie einst Lavant, so spielt nun also Rogowski in Disco Boy einen Fremdenlegionär, der im Finale enthemmt tanzen wird.

Traum und Trauma

Am Anfang flieht Aleksej aus Weißrussland nach Frankreich. Mangels Alternativen meldet er sich bei der Fremdenlegion – hält er fünf Jahre lang durch, winkt ihm die französische Staatsbürgerschaft als Belohnung. Ansonsten bleibe er ein Niemand, ein Gespenst, droht sein Ausbilder. Tatsächlich dauert es nicht lange, bis er einem Gespenst ähnelt, nur noch abwesend ins Leere starrt, als sei alles Leben aus ihm gewichen. Schuld ist seine erste Mission, eine Geiselrettung tief im nigerianischen Urwald. Eine Tat und eine Nicht-Tat werden für Aleksej zum Trauma, das ihn wie ein böser Traum heimsucht und auch tagsüber nicht loslässt.

Den Auslöser zeigt Giacomo Abbruzzese in seinem Langfilm-Debüt mit einer wunderbar leuchtenden Wärmebild-Sequenz. Aleksej mag dieser Situation entkommen, indem er – in einer sehr schönen Einstellung – per Helikopter evakuiert wird und an einem Seil hängend über den Urwald hinweggleitet. Doch bald schon bemächtigt sich eine fremde Präsenz seiner, ergreift Besitz von seiner Seele – der Seelenwanderung in Apichatpong Weerasethakuls Tropical Malady (Sud pralad, 2004) nicht ganz unähnlich.

Das Herz der Finsternis in Neonfarben

Tatsächlich lässt sich Disco Boy – wie man es eben auch von Denis und Weerasethakul kennt – eher sinnlich-intuitiv erfassen als rational-narrativ. Zwar geht es am Rande um Sinn und Unsinn der französischen Fremdenlegion – jenem seltsamen Relikt aus Kolonialzeiten – und um den bewaffneten Widerstand bis heute kolonisierter Menschen. In erster Linie ist der Film jedoch eine sensorische Kinoerfahrung.

Abbruzzese verlässt sich dabei mitunter ein bisschen zu sehr auf den pumpenden Electro-Soundtrack des Musikers Vitalic, der mit ähnlich tranceartigem Sound schon The Legend of Kaspar Hauser (2012) vertont hat. Doch die bildliche Intensität dieser Reise ins Herz der Finsternis macht aus Disco Boy einen wohligen Fiebertraum: Visuelle Zwischenspiele ohne Kontext unterbrechen mehrfach die Handlung – eines leuchtet wie Lava, ein anderes wie Glühwürmchen. Unterschiedlich kolorierte Augen blicken direkt in die Kamera. Nachts lodert im Dschungel Feuer. Die Bilder der Wärmekamera verfremden den Urwald mit Neonfarben. Und später kehren jene Neonfarben in einer ganz anderen Welt zurück: in einem Pariser Nachtclub, in dem Aleksej sich im Tanz vor einer Frau und Abbruzzese vor Beau Travail verbeugt.

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Kommentare


Daniel Lupi

Ich empfand den Film selbst als Gespenst und seine vermeintliche Sinnlichkeit als opak und körperlos, gerade weil er (v.a. männliche) Körperlichkeit so betont, aber sie nicht überzeugend als Narrativ einsetzen vermag. Seine Form der Ästhetisierung hat mich an Winding Refn erinnert, so wie Rogowksi am Ende seine Hände zum Tanz anhebt hat für mich mehr Bilder von Ryan Gosling in Only God Forgives gespiegelt als von Lavant in Beau Travail. 10 Jahre hat es wohl gedauert den Film zu machen, ich denke er kommt auf jeden Fall zu spät. Die Neonfarben wirkten auf mich schon sehr verblasst.






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