Disclaimer – Kritik

Apple TV+: Funkelnd schöne Italien-Fiktionen und mausgraue Londoner Wahrheiten. Alfonso Cuaróns episch-elegante Miniserie um die Geschichte hinter einem rachsüchtigen Enthüllungsroman macht mal wieder deutlich, dass Fantasien aufregender sind als die Realität.

Kaum hat Alfonso Cuaróns neue Miniserie angefangen, ist das Urteil auch schon gesprochen. Der geheimnisvolle Roman „The Perfect Stranger“ liegt da bereits in Buchläden aus, wurde gezielt an Arbeitsplätzen verteilt und hat den ein oder anderen gar als anonyme Briefsendung erreicht. Bei der Geschichte um eine tödlich endende Urlaubsaffäre zwischen einer untreuen Mutter und einem deutlich jüngeren Rucksacktouristen sind sich die Leser einig: Die Protagonistin ist ein abscheuliches Miststück und das grausame (jedoch niemals ausgesprochene) Schicksal, das ihr am Ende des Buchs widerfährt, die gerechte Strafe.

Narration und Manipulation

Um Schuld geht es in Disclaimer ebenso wie um Wahrheit und Fiktion. Zu Beginn bekommt die Enthüllungsjournalistin Catherine (Cate Blanchett) einen renommierten Preis verliehen, bei dem die Laudatio zugleich ein Meta-Text für die Serie ist. Narrationen sollte man mit Vorsicht genießen, weil sie einem zwar die Wahrheit näherbringen können, sie aber auch ein geschicktes Mittel zur Manipulation sind.

Wenig später ist klar, dass „The Perfect Stranger“ ein leicht ausgeschmückter Tatsachenbericht ist und Catherine die gehasste Romanheldin. Gegenstand des Buchs ist eine verdrängte, mittlerweile zwanzig Jahre zurückliegende Episode, von der weder Catherines treudoofer Yuppie-Mann Robert (Sacha Baron Cohen) noch ihr verzogener, zunehmend auf die schiefe Bahn geratender Sohn Nicholas (Kodi Smit-McPhee) etwas weiß.

Auch von Vergeltung handelt Disclaimer, genauer gesagt vom Irrglauben, der eigene Schmerz ließe sich lindern, indem man ihn einem tatsächlich oder vermeintlich Schuldigen zufügt. Herausgebracht hat den Roman der vereinsamte Witwer Stephen (Kevin Kline), der in seinem trostlosen Zuhause die rosa Strickjacke seiner an Krebs verstorbenen Frau Nancy (Lesley Manville) trägt. Catherine soll seinen bei einem Rettungsversuch ertrunkenen Sohn Jonathan (Louis Partridge) auf dem Gewissen haben, weshalb Nancy ihrer unstillbaren Wut mit „The Perfect Stranger“ eine Form gab. Stephens Plan ist so durchkalkuliert wie erbarmungslos: Catherine soll es wie dem Käfer gehen, den der alte Mann unter einem Glas gefangen hat, auf das die Kamera immer wieder zoomt: Sie soll hilflos strampeln und ausgiebig leiden.

Nacktfotos in allerlei Händen

Cuarón entfaltet die Geschichte mit gemächlicher Eleganz und neugierig machender Geheimniskrämerei. Immer wieder springt er dabei zwischen der mausgrauen Londoner Gegenwart und dem in unwirklich warme Farben getauchten Italien-Urlaub hin und her, um herauszufinden, was damals wirklich geschah. Zum Hauptbeweisstück werden offenherzige Nacktfotos, die Jonathan von Catherine (Leila George) gemacht hat. Jeder wird sie im Laufe der sechs Folgen einmal in den Händen halten und sich seinen eigenen Reim drauf machen. Oder sie auch einfach nur im Sinne des Romans interpretieren?

Misstrauen bringt man allmählich der sanften Erzählstimme (Indira Varma) entgegen, die das zerrüttete Innere der Figuren mit genießerischer literarischer Virtuosität nach außen stülpt. Jedoch mit einem irritierenden Makel: Sobald es um Catherine geht, verfällt die Erzählerin in die Du-Form und lässt somit Zweifel aufkommen, ob hier tatsächlich die Wahrheit gesagt oder doch nur jemandem eine Fiktion eingeredet wird. Zunächst spricht nur Stephen seinen Voice-over selbst, weil er es auch ist, der die Geschichte in die Welt getragen hat. Zunehmend wird Disclaimer jedoch zum Kampf um die Macht, selbst erzählen zu dürfen. Bis wir am Ende plötzlich Catherines Stimme aus dem Off hören.

Renee Knights gleichnamiger Roman, auf dem die Serie basiert, dreht sich um festgefahrene Überzeugungen und vorschnelle Urteile. Die Wahrheit setzt sich dabei nicht aus zahlreichen, durch subjektive Wahrnehmung verzerrten Schattierungen zusammen, sondern ist einfach nur das Gegenteil einer Lüge. Das macht den Stoff weniger ambivalent, als es zunächst den Anschein hat. Bereits vor dem ernüchternden Schlusstwist zeichnet sich ab, dass der skandalträchtige Inhalt des Romans weniger spektakulär als angekündigt ist, und man fragt sich auch, nach welchen altmodischen moralischen Kategorien man Catherines Handlungen bewerten muss, um zu einem so harschen Urteil zu kommen wie ihr Umfeld.

Figuren wie Glaswände

Die mitunter etwas schlichte Story kann der ambitionierten Inszenierung, dem exzellenten Schauspiel und der fesselnden Enthüllungsdynamik aber nicht allzu viel anhaben. Unüblich für eine Streaming-Produktion ist schon die epische, oft mit langen Totalen operierende Kameraarbeit von Emmanuel Lubezki. Taumelnd, manchmal regelrecht rauschhaft lässt sich die Welt durch diese mit Sinneseindrücken vollgepackten Bilder erfahren. Die kleinteiligen Szenarien pulsieren dabei wie ein eigener Organismus. So schleichen ständig Katzen ins Bild, ohne dass das etwas zu bedeuten hätte.

So distanzlos die Bilder sind, bleiben uns die Figuren doch meist ein wenig fremd. Immer wieder setzt Cuarón auf emotionale Momente, die uns ihre Qual verstehen lassen. Dann sind die Protagonisten aber wieder so selbstbezogen und ignorant, dass man sich am liebsten von ihnen abwenden würde. Gerade in ihrer Boshaftigkeit entwickeln sie jedoch eine destruktive Energie, die die Episoden trotz der mäandernden Erzählweise so kurzweilig macht. Etwa wenn Stephen immer wieder scheinheilig den harmlosen Onkel spielt, um seiner Rachsucht freien Lauf zu lassen.

Mit den Figuren verhält es sich ähnlich wie mit den mächtigen Glaswänden in Catherines Luxuswohnung. Sie wirken transparent, sind aber undurchlässig. Jeder in Disclaimer nimmt am sozialen Leben teil und ist doch in sich selbst gefangen. Die Monologe, mit denen sich die Figuren vor anderen offenbaren könnten, werden nur über das Voice-over gedacht. Es ist wie eine Beichte, bei der das erlösende Verständnis des Zuhörers ausbleibt.

Knisternde Erotik und enttäuschende Enthüllung

In Cuaróns Schaukasteninszenierung gären große Gefühle. Sie werden zum Motor der Figuren, überwältigen sie teilweise auch derart, dass sie sie blind machen. Es geht um Trauer, Hass, Neid, Enttäuschung, Demütigung und immer wieder auch um Verzicht und Geilheit. Fast die ganze dritte Episode widmet Disclaimer den Verführungsritualen zwischen Catherine und Jonathan. Alles ist voller Sonne, lieblicher Musik, gieriger Blicke und knisternder Erotik. Hemmungslos bricht Catherine im Hotelzimmer aus ihrem Ehe-Gefängnis aus, während Jonathan mit halb weggetretenem Blick, offenem Mund und gespannter Hose ihren Befehlen folgt. Es wirkt wie ein feuchter Jungstraum, eigentlich zu schön, um wahr zu sein. Selbst der eifersüchtige Robert kriegt beim Lesen dieser Episode eine Erektion.

Die Schwäche von Disclaimer offenbart sich am deutlichsten, wenn man diese Folge mit dem Finale vergleicht. Lange herausgezögerte Enthüllungen sind fast zwangsläufig enttäuschend, aber ihre Schlussfolgerung ist auch, dass Fantasien deutlich aufregender sind als eine realistisch gezimmerte Wahrheit. Nicht nur kommt Cuaróns Hang zum Monumentalen dabei besser zu Geltung, die Fiktion gesteht auch Catherine eine deutlich facettenreichere Rolle zu. Da träumt man sich lieber nach Italien zurück, um die funkelnde Schönheit der Lüge zu genießen.

DIe Serie läuft bei AppleTV+.

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