Die Zahlen – Kritik

Der Ukrainer Oleg Sentsov saß nach einem politischen Schauprozess fünf Jahre in russischen Gefängnissen. Von dort aus arbeitete er an seinem neuen Film Die Zahlen, der sich aber eher mit Gott als mit Putin befasst.

Man kann fast nicht anders, als diesen Film vor dem Hintergrund seiner Entstehungsgeschichte deuten zu wollen. Wenn ein ukrainischer Regisseur rund fünf Jahre lang als politischer Häftling Putins am Polarkreis eingesperrt war und aus dem Gefängnis heraus Briefe an seinen Freund Akhtem Seitablaev sandte, um ihm Regieanweisungen für Die Zahlen (Nomery, 2020) zu übermitteln – dann muss sich das Werk doch in die Schublade „politischer Kommentar“ pressen lassen.

Auf den ersten Blick scheint auch alles zu passen: Wir sehen eine karg-dystopische Theaterbühne, auf der zehn namenlose, durchnummerierte Menschen von zwei bewaffneten Soldaten überwacht werden. Die Menschen können diesen Ort nicht verlassen und müssen sich an lauter seltsame Regeln halten, ansonsten werden sie bestraft. Über ihnen schwebt eine Hebebühne, in der eine Art Gott sitzt, der den Wachen gelegentlich Instruktionen erteilt. Das scheint also ein recht klarer Fall zu sein: Oleg Sentsov reflektiert die düsteren Jahre im russischen Knast, rechnet mit dem Diktator Putin ab – und wenn man will, kann man das Gefangenenlager im Film auch als Metapher für ganz Russland interpretieren.

Aufruf zum Nicht-Aufbegehren?

Allerdings macht einem der Film einen Strich durch diese fein säuberliche Rechnung – und das gleich in mehrfacher Hinsicht. Sentsov hat das Drehbuch bereits 2011 fertiggestellt: drei Jahre vor seiner Inhaftierung und vor der russischen Annexion der Krim. Zudem wird im Laufe des Films sehr deutlich, dass Sentsov die Alternative zum streng reglementierten Leben der zehn Häftlinge für noch viel schlimmer hält. Damit wäre Die Zahlen als politischer Message-Film ein Aufruf zum Nicht-Aufbegehren, ein Plädoyer für Passivität und Resignation. Kurzum: Die Zahlen funktioniert weder als Parabel auf Russland unter Putin noch als Manifest gegen Diktaturen im Allgemeinen.

Vielleicht muss man Sentsov wörtlich nehmen, vielleicht ist Die Zahlen eher philosophisch als politisch gemeint und befasst sich tatsächlich mit Gott und der Welt als Gefängnis für dessen Geschöpfe. Immerhin hat dieser Gott (Viktor Andrienko), wie in den monotheistischen Weltreligionen üblich, der Menschheit eine lange Liste an Vorschriften und Verboten hinterlassen und straft sie regelmäßig für ihre Vergehen (eines der wichtigsten Verbote scheint sich auf außerehelichen Sex zu beziehen – eine Sünde, bei der sich die Weltreligionen ausnahmsweise mal einig sind). Immerhin gibt es mit Figur Nr. 1 (Oleksandr Yarema) eine Art Priester, der diese Regeln in schriftlicher Form mit sich rumschleppt und alle anderen damit schikaniert. Und immerhin kommt später eine elfte Figur hinzu, die sich als Sohn Gottes ausgibt.

In zwei Minuten durch die Hölle

In sechs Tagen hat Gott die Welt erschaffen, in Die Zahlen brauchen die – von den vielen Vorschriften, Verboten und Strafen genervten – Bewohner vier Tage, um die Herrschaft Gottes zu beenden und durch eine Schreckensherrschaft des Menschen zu ersetzen. Aus dem deprimierenden Paradies vertreiben sie sich selbst direkt in die Hölle – aus der Theokratie geht’s schnurstracks in die Tyrannei. Sentsov setzt diesen Bruch mit enormer Bildgewalt um, doch es bleibt fragwürdig, ob hinter dieser sinnlichen Opulenz mehr steckt als intellektuelle Magerkost. Denn warum ein Menschenstaat zwangsweise schlimmer sein muss als ein Gottesstaat, das lässt der Regisseur vollkommen offen. Sentsov begnügt sich mit einer bloßen Behauptung, die er zudem in zwei Minuten runterreißt, während die vorherigen Episoden über das rigide Leben unter der Herrschaft Gottes rund 100 Minuten in Anspruch genommen hatten. Die durchaus interessante Frage, was der Tod Gottes psychologisch für die Menschheit bedeuten mag, streift Sentsov nicht mal. Stattdessen endet auch dieser Deutungspfad mit Resignation: Es lohnt sich nicht, gegen Gott und seine weltlichen Vollstrecker aufzubegehren, wenn das (scheinbar alternativlose) Kontrastprogramm in säkularer Tyrannei besteht.

Dass dieses dialoglastige, mitunter recht klamaukige Kammerspiel visuell insgesamt eher wenig bietet, mag angesichts der dystopischen Bühnenlandschaft nicht überraschen. Allerdings hat Lars von Triers Dogville aus einem ähnlich kargen Schauplatz vor dem inneren Auge des Zuschauers eine ganz Welt erschaffen. Sentsov hingegen strauchelt selbst bei der Figurenzeichnung und damit auch bei der emotionalen Einbindung des Publikums: Die meisten Charaktere bleiben auch nach dem Abspann noch ein recht unbeschriebenes Blatt – vielleicht wäre sonst verständlicher geworden, warum sich einer von ihnen urplötzlich vom Zurückhaltenden zum brutalen Despoten aufschwingt. So bleibt die Entstehungsgeschichte von Die Zahlen letztlich interessanter als der Film an sich.

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