Die Verschwundene – Kritik

Ein Mord, fünf Hauptfiguren, und alle in ihrem eigenen Film: Dominik Molls Die Verschwundene ist ein paradoxes Puzzle, in dem die Zufälle vorherbestimmt scheinen und die Auflösung keine ist.

Ein Mord, mehrere Blickwinkel, und Menschen, die Dinge voreinander verbergen. Was ist passiert, wie und warum? Man findet einen toten Hund, geheime Liebschaften drohen zu zerbrechen, eine Leiche wird versteckt, ein Polizist ermittelt. Die karge Landschaft des französischen Zentralmassivs ist menschenfeindlich, der Tod lauert überall. Die Dinge scheinen sich in eine eindeutige Richtung zu bewegen, aber in der Mitte des Films tauchen wir plötzlich und unvermittelt in der Großstadt Abidjan in der Elfenbeinküste auf, und die anfangs eingeschlagene Richtung stellt sich als ein Trug heraus. Nein, Eifersucht war nicht der Grund für den Vorfall. Dafür ist das Puzzle, das der deutsch-französische Regisseur Dominik Moll in der Buchverfilmung Die Verschwundene konstruiert, zu intelligent. Diese Intelligenz des Films erschöpft sich aber auch nicht im Legen von falschen Fährten.

Puzzlespiele

Das Puzzle ist ein Modell, das gerne und häufig für Erzählstrukturen benutzt wird. Am Anfang steht man vor einzelnen und unzusammenhängenden Teilen, nach und nach bilden sich Zusammenhänge heraus und das Chaos verwandelt sich endlich in ein kohärentes Bild, in dem sich alles passend zusammenfügt. Wenn also ein Film damit beginnt, dass eine Person verschwindet, werden wir am Ende in aller Regel den Grund für ihr Verschwinden kennen. Das so entstandene Bild integriert alle Vorkommnisse und Einzelheiten der Erzählung in sich und soll uns auf ähnliche Weise befriedigen wie das Bild des Eiffelturms oder eines schönen Strands, das wir nach dem mühsamen Zusammensetzen aller Puzzleteile erhalten. Puzzles mit klar erkennbaren Motiven verkaufen sich wohl besser als solche, bei denen man am Ende ein Durcheinander wie Picassos Guernica erhält.

Beim Puzzle von Die Verschwundene erwartet man nun immer wieder, dass endlich der Eiffelturm sichtbar wird, merkt aber zunehmend, dass man eher Guernica vor sich hat. Die Vorfälle entpuppen sich als Zufälle, die aber dennoch in einen fast schon deterministisch anmutenden Zusammenhang eingewoben sind. „Der Zufall ist größer als du, Dummkopf!“ schnauzt ein Voodoo-Priester den armen Internet-Betrüger an, der seinem Glück mithilfe von Geistern auf die Sprünge helfen will. Sein Handeln beeinflusst das Mordgeschehen ebenso wie das der vier anderen Protagonisten des Films, ohne dass auch nur einer von ihnen den Durchblick hat, jeder aber seine eigenen Missverständnisse.

Aufklärung des Zufalls

Entsprechend der Anzahl der Hauptpersonen ist Die Verschwundene in fünf Episoden gegliedert. Jede gibt das Verhalten, die Wünsche, Ziele und Ängste jeweils einer Person in diesem zufällig-deterministischen Zusammenhang wieder. Mit jeder neuen Perspektive verstehen wir die Missverständnisse der vorhergehenden. Während das Publikum also immer mehr begreift, wird die Beschränktheit der Sicht der Figuren immer deutlicher, die alle in ihren eigenen kleinen Welten leben. Die Sozialarbeiterin Alice glaubt, dass sich alles um das Dreieck aus Ehemann, Liebhaber und ihr selbst dreht, ihr Ehemann Michel wähnt sich in einer anbahnenden Liebesbeziehung mit einer Internetbekanntschaft und schickt dieser Bekanntschaft Geld, das dann in der Tasche des Betrügers Armand in Abidjan landet, der nach eigener Auffassung Kolonialschulden einholt. Die Zufallsketten sind keineswegs auf einen abgeschlossenen Ort beschränkt, sondern erstrecken sich über zwei Kontinente ebenso wie über verschiedene Gesellschaftsschichten.

Je mehr die Zusammenhänge sich für das Publikum aufklären, desto mehr Verständnis kann man dafür aufbringen, dass die handelnden Figuren keinen Durchblick haben: Das Bild, das durch das Zusammenfügen der Teile entsteht, ist von unvorstellbarer Unwahrscheinlichkeit. Da ist kein klarer Umriss, kein einheitlicher Grund. Wir wissen am Ende, warum die Verschwundene verschwunden ist, aber die multiplen Gründe zeichnen ein diffuses Bild, ein zufälliges Aufeinandertreffen verschiedener Faktoren aus verschiedenen Welten. Die strenge Gesetzmäßigkeit des Krimis weicht der unerbittlichen Kontingenz des Existenzdramas. Die Freude an der Aufklärung bleibt dennoch bestehen.

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