Die untergegangene Familie – Kritik
María Alchés Debütfilm Die untergegangene Familie spürt den Folgen nach, die ein beendetes Leben für ein fortbestehendes hat – und lässt im tropischen Wohnzimmer ein unheimlich-familiäres Biotop heranwachsen.

Die Wohnung der Familie wirkt dicht. Viel Platz ist nicht da, weder für die Kinder noch für die Kamera. Zwei der drei Teenager schlafen in einem Zimmer. Ein anderes scheint ein Einzelzimmer zu haben; die unvermeidbar distanzlosen Einstellungen schaffen da kaum Klarheit. Im geräumigeren Wohnzimmer funktioniert das schon besser, aber selbst hier ist der Bildraum dicht gedrängt, angefüllt von Pflanzen mit überbordenden tiefgrünen Blättern und Sofas und Sesseln, besät mit zahlreichen farbigen Mustern. Der Ausblick aus der Fensterfront bleibt aus, die angestrahlten Gardinen sind zwar Lichtquelle, aber trotzdem mehr einengende Wand als befreiender Ausblick. Auch die Kamera scheint kein klares Bild des Raumes einfangen zu können, sondern die Sicht stets ein bisschen zu vernebeln. Dass wir in María Alchés Spielfilmdebüt Die untergegangene Familie nicht nur direkt in diese Räume geworfen werden, sondern auch in eine quirlige fünfköpfige Familie, macht die Sache nicht einfacher. Abendpläne der jugendlichen Kinder werden mit Mutter und Vater abgesprochen, Kleidung und Styles für Geburtstage werden ausprobiert, Geschwister werden geneckt, manchmal wird herumgealbert, für die Schule muss gelernt werden, und im schnellen Dialog fliegen die Namen von Freunden, Verwandten, Bekannten wie selbstverständlich durch die Wohnung.
Inneres bricht nach außen

Zum Einstieg gibt es also erschwerte Orientierungsbedingungen. Die Haltlosigkeit, die sie herstellen, verbindet uns gleich mit der Mutter der Familie und dem Mittelpunkt des Films Marcela (Mercedes Morán). Ihre Schwester Rina ist vor kurzer Zeit verstorben, doch den Alltag hat das anscheinend nicht verändert. Dabei gäbe es viel, worum sich gekümmert werden müsste: Anrufe entfernter Verwandter wollen entgegengenommen werden, Papierstapel machen das Wohnzimmer noch voller, Rinas alte Wohnung soll ausgeräumt werden, und der rege Familienalltag muss weiterhin bewältigt werden. Zu Beginn wirkt Die untergegangene Familie wie ein Kammerspiel über die Implikationen eines beendeten Lebens für eines, das fortbesteht. Wie soll man seine innere Trauer verarbeiten, wenn die äußeren Umstände einfach weiterlaufen? Wann soll Zeit dafür sein, wenn die Arbeit, die der Tod einer Verwandten macht, noch dazukommt? Viel Raum hat Marcela in dieser Wohnung und Familie für ihre Gefühle sowieso nicht, und so stülpt sich das Innere aus ihr heraus – in Form von abruptem Erbrechen in der Küche und unvermittelten Tränen während des gemeinsamen Lernens mit dem Sohn.
Glühende Visualität

Die untergegangene Familie ist dabei ein Film vieler Metaphern. Manchmal ist das ein bisschen lästig, weil Alché zu sehr auf deren wirksamen Auftritt insistiert. Da wird dann etwas zu lange auf einen Fernsehbildschirm gehalten, auf dem sich eine Schlange langsam häutet, oder zu viel Platz für eine Chemie-Nachhilfestunde von Sohn Nahuel eingeräumt, in der es um Flüssigkeiten geht, die sich unter äußerem Druck zusammenschließen. Szenen, die in ihrer Symbolik so offen gehalten sind, dass sie zu willkürlich erscheinen und in der logischen Verknüpfung, die sie verlangen, auch eher zur Denkaufgabe werden. Schöner sind hingegen jene Bilder, die eine ganz unmittelbare Wirkung erzeugen, gerade weil sie den gesamten Film wie von allein zu durchdringen scheinen. Das Anfangsbild beschaut etwa eine weiße Gardine, hinter der die feurig-rote Sonne Argentiniens untergeht: Als würden die gestrickten Muster, in Alchés Film eine Art visuelles Leitmotiv, niemals ganz in Flammen aufgehen, sondern durch die Kameraarbeit Hélène Louvarts (Beach Rats, 2017; Glücklich wie Lazzaro, 2018) beständig zerglühen.
Unheimliches Biotop

Alchés Filmkarriere begann als Hauptdarstellerin in Lucrecia Martels Film La niña santa (2004). Die Verbindung zur Protagonistin des argentinischen Films besteht aber nicht nur in der geteilten Filmografie, sondern auch in der Ästhetik. Das Erzeugen und Aushalten der engen, erhitzten, durch die vielen Pflanzen gar tropisch-fiebrigen Stimmung des Wohnzimmers erinnert unweigerlich an Martels Film Zama (2017), in dem jene Atmosphäre zum Elend für die spanischen Kolonialherren Südamerikas wurde. Was dort aber das Abstoßen der stets fremd bleibenden Räume war, ist hier ein langsames Fremdwerden von Marcelas eigener Wohnung. Irgendwann tauchen alte Verwandte auf, bevölkern die Küche, kriechen unheimlich und krebsartig auf dem Boden. Wie aus einem Kokon treten ältere Damen hinter den Gardinen hervor, die minutiöse Soundgestaltung (ein unverwechselbarer Einfluss Martels) lässt es klebrig knistern, die stark geschminkten Altdamen-Gesichter erinnern an die Farben eines Schmetterlings. Als reine Fantasie entpuppen sich die aber nie so richtig, weil Alché es schafft, dass dieses Horror-Biotop nicht einfach aus dem Nichts sprießt, sondern es organisch in den Film hinein- und herauswächst.

Reibende Sujets
Szenen, die ahnen lassen, dass auch die Vergangenheit der Familie nicht ohne Trauma auskommt, aber auch weiterhin die dichte Atmosphäre der Wohnung akzentuieren. Ein (zumindest kleiner) Ausbruch erscheint daher unvermeidlich. Marcela nutzt eine sich langsam anbahnende Affäre mit einem erwachsenen Freund ihrer Tochter, um die Wohnung zu verlassen, und der Film die Chance, mal in die weitläufigere, auch provinziellere Landschaft Argentiniens zu blicken. Es gehört zu den angenehmsten Charakterzügen von Die untergegangene Familie, dass er Handlungsstränge wie diesen nicht nutzt, um den Rest weiter zu dramatisieren. Der kurze Seitensprung bleibt stehen, ohne dass er eine ganze Abwärtsspirale der familiären Apokalypse auslösen würde. Überhaupt lässt Die untergegangene Familie die unterdrückte Trauer der Gegenwart, die angeknackste Vergangenheit und eine potenziell befreiende Zukunft sich nicht in die Quere kommen, sondern aneinander reiben. Das große Feuer interessiert ihn an der entstehenden Hitze nicht, das Glühen ist schließlich heißer.
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