Die Grauzone – Kritik

Am 7. Oktober 1944 fand der einzige Aufstand im Vernichtungslager Auschwitz II (Birkenau) statt, der trotz langer Organisation und Planung unvorbereitet und spontan ausbrach. Ausgeführt wurde er von Häftlingen des Sonderkommandos, die in den Krematorien arbeiten mussten. Tim Blake Nelsons beklemmender und hoffentlich aufsehenerregender Film berichtet von diesen Häftlingen.

Die Grauzone

In Primo Levis Buch Die Untergegangenen und die Geretteten (I sommersi e i salvati, 1986) findet sich ein Kapitel, das mit Die Grauzone überschrieben ist. Levi versucht hier, eine Beschreibung und Einordnung der Häftlinge der Sonderkommandos zu geben, die an den Gaskammern und in den Krematorien von Auschwitz-Birkenau arbeiten mussten. Es war, wie Levi schreibt, „das dämonischste Verbrechen des Nationalsozialismus“, Juden selbst dazu zu zwingen, ihre Glaubensgenossen in den Auskleideräumen zu beruhigen, sie nach ihrer Ermordung aus den Gaskammern und zu den Krematoriumsöfen zu bringen, die Leichen zu verbrennen, die Knochen zu zertrümmern und die Asche in Flüsse und Seen zu streuen, um selbst jene Spuren zu verwischen. Es war der Versuch, so Levi weiter, „das Gewicht der Schuld auf andere, nämlich die Opfer selbst, abzuwälzen“ und damit die Grenze zwischen Täter und Opfer zu verwischen.

Wenn sich ein Autor und Regisseur vornimmt, die Geschichte dieser Sonderkommandos zu erzählen, steht er vor dem großen Problem der filmischen Darstellbarkeit. In den inzwischen zu einem eigenen Genre gewordenen „Holocaust-Filmen“ wird nämlich gerade diese letzte Stufe der Ermordung der europäischen Juden immer ausgespart und lediglich angedeutet. Tim Blake Nelsons Film Die Grauzone (The Grey Zone, 2001) zeigt nur diese.

Die Grauzone

Der Film spielt nahezu ausschließlich im Krematorium IV des Vernichtungslagers Auschwitz II (Birkenau). Handlungszeit ist der Sommer des Jahres 1944, in dem die Nationalsozialisten hier mehr als 400.000 ungarische Juden ermordeten. Die Grauzone zeigt das Leben der Häftlinge des Sonderkommandos und ihre „Arbeit“ bis ins Detail: das Hineinführen der nackten Opfer in die Gaskammer, das Heraustragen der Leichen und das Säubern der Gaskammer für die nächsten Opfer. Auch das Herausreißen der Goldzähne, das Verbrennen der Leichen in den Krematoriumsöfen oder unter freiem Himmel in einer der riesigen Verbrennungsgruben. Immer wieder sieht man Laster, die mit einem riesigen Berg Asche beladen sind.

Die Inszenierung dieser Szenen ist dokumentarisch angelegt und Kameramann Russell Lee Fine arbeitete überwiegend mit der Handkamera. Damit wird aber keine Nähe oder gar Identifikation angeboten; aus den Bildern spricht ganz Verschiedenes und an diesem Ort doch Zusammengehörendes: der technisierte, fabrikmäßig-monotone und von den Opfern nicht zu stoppende Ablauf des Massenmordens und ihre Sprachlosigkeit darüber. Was die Bilder hier evozieren, findet sich leider in der Dramaturgie und der Figurenzeichnung nicht immer adäquat wieder. Zu oft merkt man dem Drehbuch an, dass es ein überarbeitetes Theaterstück ist, denn die Dialogszenen überwiegen bei weitem. Das ist oft nicht nur unnötig, sondern trifft auch nicht die Realität. In fast allen Zeugnissen der überlebenden Sonderkommandohäftlinge kann man nachlesen, dass sie wie gleichgültige Roboter, wie Automaten arbeiteten, auch in ihren Unterkünften kaum sprachen und meist in einem Zustand tiefer Apathie verharrten.

Die Grauzone

Aber natürlich folgen diese Dialogszenen einem bestimmten Ziel. Man hat Spielbergs Schindlers Liste (1992) oft vorgeworfen, dass er eigentlich gar nicht die grauenhafte Geschichte der Ausrottung der Juden, sondern eine Rettungsgeschichte und damit aus dem Schicksal der Opfer einen konsumierbaren Hollywood-Film gemacht habe. Wenn man diesen Vorwurf in die Frage kehrt, wie man denn anders die Shoah erzählen soll, wenn nicht aus Sicht und mit Kenntnis der geretteten Überlebenden, erfasst man auch den Kern von Nelsons Film, der in seiner tieferen Dramaturgie der Spielbergs sehr ähnlich ist. Denn obwohl Die Grauzone mitten im Zentrum der Vernichtung spielt, erzählt er doch zuallererst eine positive Geschichte - die von Rebellion und Aufstand.

Am 7. Oktober 1944 fand, ausgelöst von den Häftlingen im Krematorium IV, in Auschwitz-Birkenau und ohne Unterstützung des zu diesem Zeitpunkt bereits gut organisierten Lagerwiderstandes, der einzige Aufstand in der Geschichte von Auschwitz statt. Eine Sprengung machte das Krematorium und die angeschlossene Gaskammer unbrauchbar, vier SS-Leute wurden getötet, etwa zwei Dutzend verletzt. Die Darstellung des Aufstandes im Film, gemessen an dieser Realität, ist sicher übertrieben; soviel Munition hatten die Häftlinge gar nicht organisieren können, größtenteils bewarfen sie die SS-Leute nur mit Steinen oder Knüppeln. Der Film symbolisiert den moralischen Sieg der Opfer.

Es ließe sich an diesem Film noch einiges bemängeln. So unterlässt er es nicht, eine Szene zu zeigen, in der – vom Häftlings-Orchester mit Brahms-Musik untermalt – ungarische Juden in Reih und Glied folgsam in den Auskleideraum einer Gaskammer laufen. Vor allem von diesen Vernichtungsaktionen ist jedoch u.a. durch die niedergeschriebenen Erinnerungen des überlebenden Sonderkommandohäftlings Filip Müller (Sonderbehandlung, 1979) bekannt, wie die SS den quälenden, tagelangen Durst der Opfer in die Vernichtungsprozedur fest einplante und es deshalb immer wieder zu Unruhen und auch Aufbegehren der Deportierten gekommen ist. Dennoch muss Tim Blake Nelsons mutiger Film gelobt werden, da er den ernsthaften Versuch unternimmt, den Zivilisationsbruch Auschwitz im Zeigen zu verstehen – wohl wissend, dass dies unmöglich bleiben wird.

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Kommentare


pioner

Leider wird man dieser Film in Deutschland nicht finden.Ich hatte glück ihn bei E-bay in Engl. und Russisch zu kaufen.


Inso

Den Film hab ich neulich in der Videothek ausgeliehen, auf Deutsch :)


Legend Films International

Dieser Film ist definitiv in Deutschland erhältlich! Seit 10.05.2005 im Verleih, seit 08.08.2005 im Verkauf!


Inga-Lena

Ab 16 ist etwas früh! Ich hatte ne ganze Menge Eindrücke, mit denen ich nicht so klar kam. Danach auf jeden Fall Redebedarf! Aber ich finds super das so etwas zur Aufklärung da ist!


Anton

Der Film ist eine Mischung der Autobiografien: Sonderbehandlung von Filip Müller und: Im Jenseits der Menschlichkeit von Miklos Nyiszli und unbedingt zu empfehlen.


M.Udo

Dieser Film ist einmalig, da er im Stiel des Theater´s - großes atemberaubendes, realistisches und packendes Kino ist und ein nachdenkliches Zeitdokument der dunklen Geschichte Deutschlands ist.






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