Die Erde ist ein sündiges Lied – Kritik

Neu auf DVD: Ausharren im Abgrund – Die Erde ist ein sündiges Lied (1973) zeigt den Familienalltag in einem finnischen Dorf als karge, kraftraubende Gegenwart. Doch in der niederdrückenden Wirklichkeit findet sich irgendwann auch das Schöne.

Die internationale Popularität der Filme Aki Kaurismäkis sei der finnischen Tourismusbranche ein Dorn im Auge, so ist immer mal wieder (scherzhaft) zu hören. Zu trist erscheine das Land darin und verschrecke mögliche Besucher. Dabei könnte man sich glücklich schätzen, dass Die Erde ist ein sündiges Lied (Maa on syntinen laulu, 1973) nie auch nur ansatzweise den Nachhall der lakonischen Indiefilme Kaurismäkis erfuhr. Bietet das Karge dort nämlich noch Grund zum Lachen, findet sich in diesem Film keine absurde Überformung, sondern nur kalte, niederdrückende, unwirtliche Wirklichkeit.

Viel zu darben, wenig zu erleben

Der Schauplatz, ein entlegenes Dorf, ist eine kalte Ödnis, die den Bewohnern keinerlei Annehmlichkeiten bietet. Eine Außenwelt bleibt so gut wie abwesend, die Menschen sind auf sich zurückgeworfen. Das rustikale Miteinander in Gemeinde und Familien ist bestimmt von Schimpftiraden, Tritten und Messerstichen. Zärtlichkeit fehlt weitestgehend. Und die Schauspieler sind sichtlich nicht wegen ihres Charismas oder ihres glamourösen Aussehens besetzt worden. Kurz: Regisseur Rauni Mollberg präsentiert eine ungeschönte Welt, die ihre Bewohner beherrscht statt andersherum. Im Grunde ein Loch, in das die Leute qua Geburt geworfen wurden.

Erzählt wird von einer Familie, die viel zu darben hat und wenig erlebt. Eine Geschichte im eigentlichen Sinn gibt es jedenfalls nicht. Martta (Maritta Viitamäki) ist noch am ehesten mit einer Handlung bedacht. Mit drei Verehrern hat sie Sex – der eine vergewaltigt sie, den anderen, einen Lappen, liebt sie und möchte ihn zum Missfallen ihrer Familie heiraten, mit dem neu dazustoßenden, jugendlichen Adoptivbruder füllt sie ihre öden Nächte, weil sie eh schon schwanger ist und daher „nichts mehr passieren kann. Promiskuität wie Schwangerschaft werden selbstredend dramatische Folgen haben.

Verschüttete Innenleben

Mollberg liegt jedoch kaum an einem Drama. Sein Film konzentriert sich mehr auf den Alltag der Familie. Kleine und große Aufregungen gibt es darin zwar beständig. Endloses Nörgeln, ein Mord, ein tödlicher Unfall, eine Prostituierte, die bei der Geburt ihres Kindes stirbt, ein im Mutterleib gestorbenes Kalb, Hand und Messer, die in den Unterleib der Kuh geschoben werden, um es zu zerteilen und Stück für Stück herauszuholen, gemeinsames Schwitzen in der Sauna, Alkohol, Schuften, Hinnehmen, dass sich die Zeit zäh und ohne Katharsis dahinwälzt, und dieses endlose Nörgeln: Die Erde ist ein sündiges Lied liefert Niederdrückendes am laufenden Band. Doch bei allen Protagonisten perlt es am dicken Fell der Gewohnheit ab.

All die Vorkommnisse stehen aber, wie gesagt, für sich und verknüpfen sich nicht zu einem Narrativ. Es kommt zu keiner Entwicklung. Die Leute, wenn sie nicht nörgeln, schweigen. Und überhaupt rafft sich niemand auf, etwas ändern zu wollen. Der Blick in die Menschen bleibt uns verwehrt, uns werden nur Oberflächen geboten, oder vielmehr eine endlose Gegenwärtigkeit aus Oberflächenreizen. Wir finden uns einer Fleischlichkeit gegenüber, die nicht verhehlt, dass Körper schwitzen und riechen. Gebrechlichkeit, Wunden und Blut, vor denen wir nicht geschützt werden und deren erzählerischer Sinn uns nicht vermittelt wird. Nur die scheuen Blicke hier und da, die im sonstigen Stieren der Figuren verloren wirken, gewähren eine Ahnung von den verschütteten Innenleben.

Vorbild für einen naturalistischen Film

Ende des 19. Jahrhunderts stellte sich die Strömung des Naturalismus der Vergeistigung der Romantik entgegen, konzentrierte sich auf die untere Hälfte von Körper und Gesellschaft und verschloss nicht die Augen vor damals tabuisierten Themen. Die Erde ist ein sündiges Lied ist so gesehen vorbildhaft für einen naturalistischen Film. Nur wo Émile Zolas Literatur, die am Anfang der Bewegung stand und deren Höhepunkt bildete, die Menschen als Produkte und Teile ihrer familiären, sozioökonomischen und politischen Lebenswelt zeichnete, ist die Existenz in Die Erde ist ein sündiges Lied von solchen Zusammenhängen entkernt. Es bleibt nur das dumpfe Pochen eines kargen, kraftraubenden Jetzt, einer sinnlosen Existenz. Die Predigt eines Pfarrers in der Mitte des Films führt deshalb auch nicht zu Erbauung und geistiger Einkehr, sondern zieht eine psychedelisch anmutende Orgie nach sich und endet mit der sofortigen Desillusionierung, wenn der Priester sich als ebenso sündig wie die von ihm ermahnte Welt offenbart.

Was aber nicht heißt, dass es um ein Abstraktum wie die Natur des Menschen gehen würde. Viel konkreter geht es um Enge, ums Ertragen und um das Gefühl, ausgeliefert zu sein. Was sich auch in der Seherfahrung niederschlägt. Da wo Zolas Romane fast durchgehend auf Wahnsinn und Raserei hinauslaufen und seinem sozialwissenschaftlichen Literaturansatz die Qualitäten düsterromantischer Reißer beistellen – und deshalb auch enorm erfolgreich und oft von Skandalen begleitet waren –, da gibt es hier eben keinen wilden Ritt in den Abgrund, sondern das Ausharren darin.

Zärtlicher Respekt

Die Eindimensionalität dieses wuchtigen Realismus hat aber auch ein befreiendes Moment – die um die finnische Tourismusbranche Besorgten wird es freuen. Da sich den Figuren nicht moralisch genähert wird, werden sie eben auch nicht verteufelt. Da sie uns nicht erklärt werden, bleiben sie selbst auf gewisse Weise unbehelligt und vor allem Projektionsflächen für unsere Gefühle und Gedanken. Die Erde ist ein sündiges Lied ist so gesehen von einem zärtlichen Respekt gegenüber seinen Figuren gezeichnet und atmet Freiheit. Da eben nichts geschieht, finden auch schweifende, impressionistische Blicke ihren Platz. Und wenn die Natur dann zuweilen auch noch in ein entrücktes Licht getaucht ist, dann findet sich in diesem existenziellen Loch nicht zuletzt doch das Schöne und Hoffnungsvolle.

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