Der weiße Tiger – Kritik
Netflix: Jeder Versuch, gesellschaftlich aufzusteigen, endet für den Chauffeur Balram in einer Sackgasse. Der weiße Tiger erzählt von einem jungen Mann, der gelernt hat zu dienen, und konzentriert sich dabei weniger auf seine Wandlung als auf sein verhindertes Aufbegehren.

Als der Chauffeur Balram (Adarsh Gourav) bei seinem Chef auftaucht und inmitten seiner Entourage Platz nimmt, sind alle ungewohnt nett zu ihm. Freundschaftlich klopfen die Männer dem treuen Angestellten aus der bitterarmen nordindischen Provinz auf die Schulter und reichen ihm einen Betelbissen. Wie viele aus den niederen Kasten kaut auch Balram gerne auf der mit Kalk angereicherten Mischung aus den Blättern und Nüssen des Betelbaums, die leicht berauschend wirkt und die Zähne unschön verfärbt. Weil Pinky (Priyanka Chopra), die in den USA aufgewachsene Frau seines Arbeitgebers, ihn zuvor noch wegen seines Mundgeruchs zurechtgewiesen hat, lehnt Balram das Geschenk aber zunächst ab.
Obsessives Zähneputzen

In Ramin Bahranis Der weiße Tiger (The White Tiger) ist diese genau in der Mitte des Films platzierte Szene sowohl Schlüsselmoment als auch Wendepunkt. Tatsächlich leitet die schmeichelnde Geste nur den hinterhältigen Versuch ein, Balram zum Sündenbock für einen tödlichen Unfall zu machen, den eigentlich Pinky verursacht hat. Das scheinbar unerschütterliche Vertrauen des ergebenen Jungen in seinen Meister Ashok (Rajkummar Rao) wird dabei irreparabel erschüttert.
Die Szene offenbart dabei auch beispielhaft, wie der Diener immer wieder mit fast unscheinbaren Gesten kleingehalten wird. Er kauft sich ordentliche Schuhe auf dem Straßenmarkt und versucht mit obsessivem Zähneputzen den hässlichen Belag loszuwerden – aber jeder Versuch, gesellschaftlich aufzusteigen, endet in einer Sackgasse. Wie Balram den Betelbissen nach anfänglichem Zögern schließlich doch annimmt und ihn sich verlegen kichernd in den Mund schiebt, ist einer von vielen in ihrer Beiläufigkeit besonders bitteren Momente, in denen der Wunsch, etwas Besseres zu sein, von der Macht der Routine überrollt wird.

Bahranis Adaption von Aravind Adigas gleichnamigem Briefroman folgt dem Aufstieg seines klugen, immer wieder am Kastenwesen scheiternden Helden zum wohlhabenden Besitzer eines Taxi-Unternehmens. Der seltene weiße Tiger aus dem Titel dient dabei als Metapher für einen glücklichen Auserwählten. Mit reichlich Voice-over lässt der Protagonist aus der Gegenwart die Ereignisse in Form eines Briefs an den chinesischen Ministerpräsidenten Wen Jiabao Revue passieren. Dabei erscheinen die Rahmenhandlung und das ständige Hervortreten des Erzählers teilweise unnötig umständlich. Auch sonst gibt sich der Film manchmal gewollt virtuos. Etwas arg abgegriffen wirken etwa die musikclipartigen Montagesequenzen, die zum Klang indisch-amerikanischer Pop-Hybride von Panjabi MC und Jay-Z die Hektik der Großstadt und die Versuchungen des Kapitalismus einfangen.
Lebenslang einstudierte Unterwürfigkeit

Umso besser beherrscht es Bahrani (der auch das Drehbuch geschrieben hat), seine Schauspieler ins rechte Licht zu rücken und aus inneren wie zwischenmenschlichen Reibungen dramatische Intensität zu erzeugen. Mal treten die ungleichen Machtverhältnisse dabei deutlich nach außen, dann wieder schleichend und subtil. Wegen ihrer westlichen Sozialisierung bestehen Ashok und Pinky darauf, ihrem Diener auf Augenhöhe zu begegnen. Der lockere Umgang verschleiert allerdings nur, dass dieses Verhältnis ebenso auf Ungleichheit beruht wie das offen praktizierte Kastenwesen. Wenn das Upperclass-Paar Balram in der Pampa aussetzt, handelt es sich dabei eben um keinen Scherz unter Freunden, sondern um die Demütigung eines Bediensteten. So wie jedes liebliche Kompliment des Dieners ist auch seine Freundschaft zu Ashok eine Lüge. Während sich der eine am Ende des Tage in sein Luxusapartment zurückzieht, verschwindet der andere in der verdreckten, fensterlosen Besenkammer einer Parkgarage.
Wie es Balram schließlich nur mit Gewalt gelingt, sein Schicksal hinter sich zu lassen, erzählt der Film schnell und sprunghaft. Bahrani tut aber gut daran, sich stärker auf das verhinderte Aufbegehren zu konzentrieren als auf die Wandlung. Die innere Zerrissenheit des Helden bietet dabei eine dankbare Bühne für den tollen Newcomer Adarsh Gourav. Mit seinem ganzen Körper zeigt er, dass Balrams sozialer Aufstieg weniger an einem Netz familiärer Abhängigkeiten scheitert als an seiner lebenslang einstudierten Unterwürfigkeit. Seine Rolle ist zwar undankbar und rein funktional, aber er beherrscht sie viel zu gut, um sie einfach abzulegen. Immer wieder sieht man den Zweifel und die Wut in seinen Augen flackern. Doch nach kurzem Innehalten wird alles einfach sanft weggelächelt. Eine Wandlung scheint erst dann möglich, als Balram sein Verhalten auch wie eine Rolle begreift und beginnt, sie berechnend einzusetzen. Die hierarchische Ordnung, die ihn kleingehalten hat, wird er auch nach seiner Neuerfindung nicht umstürzen. Aber die Regeln, die er festlegt, sind ein wenig fairer.
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