Der Weidenbaum – Kritik
Auch von einem brutalen Mord und einer Tasche voller Geld lässt der iranische Regisseur sich nicht aus der Ruhe bringen.
Beim dritten Mal ist alles anders. Da rückt die vorbeifahrende Postkutsche nicht bloß vom Hintergrund in den Vordergrund, um dann seitwärts aus dem Bild wieder zu verschwinden. Da bleibt sie stehen. Und die nächste Einstellung zeigt, wie der alte Mann, der wie immer am See sitzt und angelt, sich umdreht und beobachtet, wie die Postkutsche, die jeden Tag vorbeifährt, nun stehen bleibt. Ein Zeuge.

Nach einer halben Stunde Schweigen ist dann auf einmal überall Sprache. Was hast du gesehen, fragt ein Polizist. Klassischer Krimi: Alltag, Mord und dann ganz viele Fragen. Für die Fragen interessiert sich Sohrab Shahid Saless am wenigsten. Für den Alltag umso mehr. Gleich im ersten Bild sehen wir den alten Mann beim Angeln. Nachdem die Postkutsche vorbeigefahren ist, geht er irgendwann ins Haus. Pointierung der Routine: Essen rausholen, Schwarzblende, Essen zubereiten, Schwarzblende, Essen zu sich nehmen, Schwarzblende, Schlaf. Dann wieder angeln, Postkutsche und so weiter. Wie stets bei Saless gibt es auch in Der Weidenbaum (1984) keine existenzielle Behauptung des Ewigen, sondern ein so nüchternes wie ernüchtertes Beobachten von Rädchen im Getriebe des Lebens. Kein abstraktes Immer, sondern ein konkretes Immerzu.
Ein Knecht für die Herrschaften

Dann der Mord: Die Postkutsche ist stehen geblieben, der Postkutscher liegt darin. Ein finsterer Gesell thront mit einer an einer Kette befestigten Stahlkugel über ihm. Schläge. Eine Gewalttat, nicht als brutaler Einbruch in die Ruhe, sondern als ebenso nüchterne filmische Tatsache. Anders als wir sieht der alte Mann die ungewohnten Bewegungen nur aus der Ferne, versteht sie oder versteht sie nicht. Sieht aber, wie der Mörder sich zögernd dem alten Weidenbaum nähert, dem die Erzählung von Tschechow (über den Saless drei Jahre zuvor den Dokumentarfilm Anton P. Cechov – Ein Leben drehte) ihren Namen verdankt. Dann ist die Kutsche wieder weg, dann kommen die Fragen. Nichts gesehen, sagt der alte Mann. Schon immer lebt er hier. Erst als „Knecht“ für „die Herrschaften“, mittlerweile allein. „Die Leute hatten Feiertag. Ich war arbeiten“, erinnert er sich an eine Begebenheit oder an ein ganzes Leben.
Mehr Zeit

Saless hat über die Vorlage gesagt: „Diese Geschichte ist so einfach, dass alle Redakteure und Produzenten sowie Drehbuchautoren und Regisseure sie als Vorlage für einen Fünfzehn-Minuten-Film einschätzten.“ Eine Entsprechung findet diese Haltung bei den städtischen Behörden, zu denen der alte Mann die Tasche voller Geld bringen will, die er im alten Weidenbaum gefunden hat. Nun sag schon! Raus mit der Sprache! Dalli, dalli! Aber fünfzehn Minuten hat der alte Mann ja schon benötigt, um das Gericht zu finden. Um dann solche Sätze zu sprechen: „Die Weide hat ein großes Loch. Wie ein Mund. Wie ein richtiger Mund.“ Das braucht Zeit. Und so hat Der Weidenbaum schließlich über 90 Minuten bekommen. Produziert wurde der Film von Radio Bremen, gedreht in der Tschechoslowakei.
Ein Krimi also? Nun ja. Saless ist nichts gleichgültig, aber alles gleich gültig. Und so weicht das Bild einer Tasche voller Geld den mühsamen Bewegungen eines alten Knechts durch die Stadt. Kennt sich hier nicht aus, kann nicht lesen. Aber bei Saless muss sich der Knecht nicht der Stadt angleichen, sondern die Stadt dem Knecht, dem analphabetisierten Rhythmus dieses Films. Der Raum wird ein anderer durch die Modellierung von Zeit. So lange um die Ecken gehen, bis man ankommt, bis die hektische Stadt erschlossenes Land geworden ist.
Der Mörder und der Zeuge

Mit dieser niemals autoritären, stets völlig transparenten Langsamkeit erforscht Der Weidenbaum dann selbst drei verschiedenen Arten der Bewegung, denen zugleich unterschiedliche Formen der Wahrnehmung entsprechen. Das entschleunigte Registrieren des Alten in seinem Territorium, die forsch-abgehackte Wissbegier der Behörden an den Schreibtischen und Hinterzimmern, schließlich die nervöse Wachsamkeit des wie ein Tier aufgescheuchten Mörders. Auch der wird nochmals wiederkommen, sucht seine Tasche. Die Schläge für den Alten ändern nichts daran, dass er zu spät kommt. So gehen die beiden gemeinsam zurück in die Stadt. Angleichung von Bewegungen: der Täter und der Zeuge, die ein gemeinsames Tempo finden müssen. Ein schönes Bild, auch für das Kino von Sohrab Shahid Saless. Das weder blind jeder Aktion folgt noch stetig die eigene Beobachtungsgabe zum eigentlichen Ereignis stilisiert, das Handlung und Zeugenschaft gar nicht voneinander trennen kann.
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