Der Unschuldige – Kritik
Immer tiefer hinein in Wälder und Verliese, in Serverräume und Swingerclubs. In Simon Jacquemets Der Unschuldige gerät das Leben einer Frau aus den Fugen.

Es gibt Triptychen, die ein gemeinsames Bild ergeben. Und dann gibt es solche wie Hieronymus Boschs „Der Heuwagen“, die aus unterschiedlichen Bildern bestehen. Nicht mal thematisch müssen sie zusammenhängen. Nur die Scharniere zwischen den Holzrahmen verbindet sie. Zu den Einzelteilen gesellen sich aber die assoziativ sinnstiftenden Möglichkeiten der Beziehungen untereinander. Simon Jaquemets Der Unschuldige ist nun kein Triptychon. Schon zahlenmäßig haut das nicht hin. Aber einen zentralen Punkt haben der Film und die Gemäldeform gemein. Das Drama Ruths (Judith Hofmann) besteht nämlich aus mehreren Einzelteilen, die nur durch das Scharnier ihrer Person miteinander verbunden sind.
Zwanghaftes Familienleben

Wenn wir bei dem humpeligen Vergleich bleiben, dann bildet ein Familiendrama die Mitteltafel von Der Unschuldige. Ruth ist mit dem streng religiösen Hanspeter (Christian Kaiser) verheiratet und hat zwei Töchter. Die eine, Aline (Laura Sophie Winter), ist ebenso religiös wie ihr Vater. Die andere, Naomi (Naomi Scheiber), hat ebenso wie Ruth Probleme mit der Enge des frommen Zusammenlebens. Hanspeter ist eine normierende, richtende Instanz, die ruhig im Haushalt thront – immer bereit, bei Verfehlungen herniederzufahren – oder abgewendet als ewiger Rücken im ehelichen Bett liegt. Innigkeit hat in dieser Konstellation, wenn sie denn überhaupt auftritt, etwas Zwanghaftes. Beim gemeinsamen Gesang und Spaß in gottgefälliger Ekstase liegen Zweifel und unartikulierte Hilferufe in den sich suchenden Augen von Ruth und Naomi. Doch das Familienleben macht nicht den Hauptteil dieses eigenwilligen Polyptychons aus, wird es doch ständig von seinen „Flügeln“ überlagert.
Einer dieser „Flügel“ entsteht durch Ruths Jugendliebe Andi (Thomas Schüpbach), der nach 20 Jahren Haft entlassen wurde. Ruth meint, ihn auf der Straße gesehen zu haben und fühlt sich nun ständig verfolgt. Ob es Gefühle sind, die ihre Ehe bedrohen, Wollust oder Schuldgefühle, weil sie nicht auf ihn gewartet hat: Es bleibt unklar, was sie hinter sich wähnt. Nur kippt Der Unschuldige an diesen Stellen in eine Art Paranoia-Thriller inklusive (vielleicht nur eingebildeten) Autoverfolgungsjagden.

An anderen Stellen übernimmt Ruths Job die Kontrolle über den Film. Sie arbeitet in einem Labor, wo gerade der Kopf eines Affen operativ auf den Körper eines anderen übertragen wurde. Während ihre Vorgesetzten einen Schritt in Richtung Unsterblichkeit sehen, sprechen aus Ruths Verhalten lediglich Skrupel. Hier ist eine Frau zu sehen, die gerne Dinge korrigieren möchte, ihrem Dienst aber gehemmt nachgeht, wobei die implizierten moralischen Fragen plötzlich weit über das Private hinausgehen. Und schließlich ist da die Sekte von Ruths Mann. Gottesdienste und zunehmend rigide Normalisierungsbestrebungen übernehmen den Film und das Leben von Ruth und Naomi. Das zwangsbestimmte Familienleben findet hier, in der entlarvenden Darstellung eines fanatischen Christentums, seine potenzierte Ausprägung.
Keine gemütliche Welt

Möglicherweise ist Andi der Unschuldige des Titels. Den Grund seiner Inhaftierung, den Mord an seiner reichen Tante, stritt er immer ab und seine Schuld oder Unschuld treibt nun wieder Ruth um. Sicher ist er aber der Auslöser von allem. Der Film beginnt damit, wie Ruth auf einen Imbiss zugeht und aus unerfindlichen Gründen zurückweicht. Es ist ein unscheinbarer Moment, der alles in Bewegung setzt und aus einem stabilen Leben ein zersprengtes macht. Etwas Zusammenhaltendes gibt es nicht mehr. Familie, Paranoia, Tierversuche oder Sektenleben: Die Szenen operieren im Wechsel nach einem dieser Motive, die selbst fein voneinander getrennt bleiben. Höchstens verbal dringt eine andere Ebene mal in die aktuell vorherrschende ein. Und Ruth ist auf all diesen Ebenen stets eine Einzelkämpferin, ohne Vertraute, ohne Konstanten.
Unveränderlich bleibt höchstens die visuelle Strategie des Films. Die langen, zumeist frontalen oder Ruth verfolgenden Einstellungen: Der Unschuldige zeigt keine gemütliche Welt, sondern eine der kalten Konfrontation. Leuchtend helle, weiße, geordnete und fast inhaltslose Räume bilden die Oberflächen der unterschiedlichen Lebenswelten. Ruth dringt überall mal früher, mal später in dunkle, unordentliche, vollgestellte und immer irrealere Hinterräume vor. Ob es der Keller im Haus ist, der die Geheimnisse der Vergangenheit beherbergt, eisige Felder, auf denen rohes Fleisch vergraben wird, Serverräume, in denen ein Hund lebt, der Wald, in dem sich Zelte mit kopulierenden Jugendlichen finden, die Verliese der Sekte für Korrekturbemühungen oder Swingerclubs, die das Fenster zu Freiheit und Tod zu sein scheinen.
Schon mit Beginn ist Der Unschuldige erratisch: Auf das Zurückschrecken auf der Straße folgt unmittelbar ein Gottesdienst, bei dem Ruth mit Berührung des Predigers sich zu übergeben beginnt. Da die Handlung anschließend wieder ohne Erklärung an eine andere Stelle springt, bleibt offen, ob dies eine psychologische, mystische oder zufällige Reaktion war, oder was überhaupt los ist. Und je tiefer Ruth in die dunklen Untergeschosse vordringt, umso absurder wird das Geschehen.
Ein Mensch, der zerfasert wurde

Schließlich zwingt Der Unschuldige Ruth zu einer Wahl. Aber nicht zwischen den Strängen, sondern zwischen Licht und Dunkelheit, zwischen Realität und Wahn. Der Film selbst bleibt jedoch bis zum Ende divergent. Mal ist er eine sehr trockene wie bittere Komödie, mal Mysterythriller, mal ein das Herz beengendes Drama. In den besten Momenten fällt all dies zusammen, so wie auch die Motive der Verfolgung, des Entscheidungs- und Normierungszwang sich in allen Strängen finden. Die Einzelteile überlagern sich eben assoziativ.
Aber durch die ständigen Wechsel bleiben diese isolierten Einzelteile Skizzen. Die Stärke von Der Unschuldige ist auch seine Schwäche. Die Moderne als ein Ort, der allgemeingültige Werte verloren hat und dem Ruth nicht mit Haltung, sondern mit Flucht begegnet, hat nichts Erschlagendes, sondern eher etwas Laues. Nicht Cthulhu wartet in den Untiefen, sondern lediglich die Misslichkeit eines Menschen, der zerfasert wurde. Dieses Kleinteilige bietet viele intensive Momente, vor allem aber Angerissenes, das sich in der Gesamtheit des Angesammelten verliert. Möglicherweise liegt es zudem an dem vor jeglicher Festlegung fliehenden Ende, dass Der Unschuldige wie ein derber Spaß wirkt, der etwas zahm bleibt.
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