Der Spatz im Kamin – Kritik
MUBI: Ein Haunted House bereitet sich auf eine Familienfeier vor. Im Abschluss der Tier-Trilogie dreht Ramon Zürcher nochmal richtig auf. Der Spatz im Kamin ist Familienhorrorkino par excellence, lässt aber auch ein wenig wehmütig werden.

Der Spatz schafft es früh raus, nicht nur aus dem Kamin, sondern gleich aus dem ganzen Haus, und das ist wohl gut so, denn lange war ein Haus nicht mehr so haunted wie das, in dem dieser Film spielt. In diesem Haus wuchs Karen (Maren Eggert) einst mit ihrer Schwester Jule (Britta Hammelstein) auf, nach dem Tod der Mutter ist sie nun mit ihrer eigenen Familie – mit Mann Markus (Andreas Döhler) und den drei Kindern Johanna (Lea Zoë Voss), Christina (Paula Schindler) und Leon (Ilja Bultmann) – dort eingezogen. Wie das so ist: Man kann es doch nicht einfach verkaufen, Mutter hat doch so dran gehangen, sagt Karen. Aber wir haben es gehasst, erinnert Jule. Und tatsächlich, den Hass hat das Haus für sich gepachtet, und „Ich hasse dich“ ist noch einer der netteren Sätze, die hier fallen.
„Sie kommen gleich“

Wie auch immer man in die Beschreibung von Ramon Zürchers Der Spatz im Kamin einsteigt, schnell ist klar, dass im Vergleich zu den anderen beiden Teilen der sogenannten Tier-Trilogie – Das merkwürdige Kätzchen (2013) und Das Mädchen und die Spinne, entstanden in Co-Regie mit Bruder Silvan Zürcher, der sonst als Produzent fungiert (2021) – die Einsätze erheblich höher sind. Auch wenn es harmlos losgeht: Das Setting wird in ein paar impressionistischen Bildern etabliert – eben jenes Landhaus in abgelegener Waldgegend, mit einem kleinen See und einer kleinen Insel, deren sich mittlerweile Kormorane bemächtigt haben –, dann weckt Leon, der Jüngste, seine Mutter mit den Worten „Sie kommen gleich.“
Und wie sie kommen, die Eingeladenen zu Markus’ Geburtstagsfest: Jule, Tochter Edda (Luana Greco) und Mann Jurek (Milian Zerzawy), mit Neugeborener im Arm, betreten das Haus als Erstes, bald darauf kehrt Johanna aus der Schule zurück, und irgendwann landet von durchaus weiter weg auch Karens älteste Tochter Christina, die längst Reißaus genommen hat, dem Kamin schon entflohen war, gegenüber ihrer Schwester aber schnell gesteht, dass Haus und Familie ihr seit der Flucht näher sind als je zuvor. Und dann tritt noch Liv (Luise Heyer) vom Gartenhaus nebenan auf den Plan: Nachbarin, Babysitterin, Liebhaberin und überhaupt Störfaktor, der die ohnehin schon komplexen familiären Verstrickungen nochmal gehörig durcheinanderbringt.
Familiärer Body-Horror

Einem Hong Sang-soo nicht unähnlich, haben die Zürcher’schen Settings stets etwas von einer Versuchsanordnung: Das Haus und seine Insassen sind ein hermetisch abgeriegelter Kosmos, in dessen Inneren alle Türen offen sind, auch weil Karen jegliche Schlüssel verbannt hat. Das führt dazu, dass die Leute gern mal mehr hören, als für ihre Ohren bestimmt war – im für Zürcher so wichtigen Off wird nicht nur geredet, sondern auch zugehört –, und auch zu awkward moments, wenn etwa die pubertierende Johanna ihren Onkel anmacht und der kurz darauf von Karen masturbierend unter der Dusche erwischt wird.
Auch wenn Zürcher der nüchtern Räume vermessenden Ästhetik der Trilogie treu bleibt, die frei von gängigen Arthouse-Dramatisierungen ist, tummeln sich im Spatz im Kamin solch explizite Momente, die in den anderen beiden Filmen noch ein wenig fehl am Platz gewirkt hätten. Auch dort schon waren die Dialoge durchdrungen von fiesen Spitzen und Bösartigkeiten, doch schien das Interesse noch stark den zwischenmenschlichen Sprachspielen zu gelten, den Regeln der Kommunikation, die Verständigung wie Verletzung mal ermöglichen, mal verhindern. Jetzt geht es ans Eingemachte: Kinder, die sich fragen, warum ihre Mutter nicht lieben kann; Schwestern, die sich angiften und einander doch vermisst haben; aufgedeckte Affären, familiäre Traumata, ein Selbstmord im Keller, von dem die jüngste Generation noch nicht einmal etwas wusste.
Anders gesagt: Nutzten die anderen Filme den Zirkel, den Johanna in einer frühen Szene in der Schule über ihr Handgelenk kreisen lässt, eher geometrisch, zweckentfremden sie ihn jetzt und bohren tief ins Fleisch: Der Spatz im Kamin ist familiärer Body Horror, nicht nur, aber besonders in den Sequenzen, die im letzten Teil ins Fantastische driften, wenn die Dinge Feuer fangen, wenn Karen sich wie einst Diane in Mulholland Drive zu verdoppeln scheint und mit der Realität durcheinander kommt, wenn irgendwann unklar ist, wer hier eigentlich wen mit wem betrügt und wer deshalb eifersüchtig ist. Auch der Soundtrack unterlegt die Dinge irgendwann nicht mehr mit leicht nervösen Klavierklängen, sondern mit treibenden Techno-Beats.
Orchestrationen von Mikroaggressionen

Dass der Abschluss der Tier-Trilogie also so richtig aufdreht und in Bild wie Ton in die Vollen geht, ist einerseits eine gute Nachricht, weil die Kinoerfahrung immer aufregend ist, der Film immer unvorhersehbar bleibt, sich überhaupt viel selbstbewusster in eine Filmgeschichte einschreibt, Genreelemente nonchalant nutzt, um all das ausbrechen zu lassen, was im Kätzchen und der Spinne noch unter der Oberfläche brodelte. Und überhaupt lässt er sich als letzter Akt einer Gesamtkomposition gerade in der Zuspitzung der tierischen Motivik genießen, vor allem wenn die Zürchers ihre merkwürdigen Darlings killen.
Andererseits werde ich das Gefühl nicht los, dass dabei etwas auf der Strecke bleibt, dass da ein bisschen viel gewollt wurde. Es beißt sich vielleicht der wie eh und je präzise Blick auf zwischenmenschliche Dynamiken und die Phrasierung der Gefühle – „Alles gut?“, fragen die Figuren sich ständig gegenseitig –, der stets etwas Allgemeineres ins Kenntliche verzerrt, mit der konkreten Geschichte einer Familie, und vor allem einer Mutter, die verletzt, weil sie verletzt wurde, die als Figur zugleich (film)historisch überdeterminiert wie im konkreten Film unterbestimmt ist. So sind manche Ensembleszenen auch hier grandiose Orchestrationen von Mikroaggressionen, die für sich stehen und doch beiläufig ganze Geschichten und Biografien miterzählen. Andere Dialoge zu zweit hingegen wollen oder müssen Geschichten und Biografien auf den Punkt bringen und klingen deshalb mitunter merkwürdig anders.
Hunde würden die Menschen nicht als Menschen erkennen, sondern für Hunde halten, und eine Welt ganz ohne Menschen, das wäre ihr Paradies, sagt die erratische Liv einmal, als sie mit Markus im Bett liegt. Ein wenig beschreibt sie damit auch die Verfremdungsstrategie der Tier-Trilogie, die in ihren besten Momenten tatsächlich einen anderen, neuen Blick aufs Menschliche zu ermöglichen scheint. Das gilt auch für Der Spatz im Kamin. Ein bisschen wehmütig macht nur, dass auf einmal so direkt ausgesprochen ist, was vorher eine unheimliche Ahnung war.
Den Film kann man bei Mubi streamen.
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