Der schöne Sommer – Kritik
Im Italien der 1930er Jahre taucht eine junge Schneiderin in eine aufregende Künstlerwelt ein. Der schöne Sommer lässt queeres Begehren aufflammen und seziert schmerzhaft präzise patriarchale Gewalt, bleibt aber frustrierend unentschlossen, wenn es darum geht, dieser etwas entgegenzusetzen.

So leben sie also, die freien, den schönen Dingen zugewandten Städter, zu denen die kürzlich nach Turin gezogene Ginia (Yile Yara Vianello) voller Sehnsucht aufschaut. Es ist ein milder Sommerabend, auf dem Gras sind Decken ausgebreitet, Kerzenlichter flackern, Flaschen gehen klimpernd auf, Gespräche fließen gedämpft dahin. Die Bilder von Kameramann Diego Romero Suarez Llanos erinnern an ein impressionistisches Gemälde; die Szenerie strömt gleichzeitig etwas Friedliches und Magisches aus, das Ginia mit der Ehrfurcht und der Faszination der Nicht-Eingeweihten beobachtet.
„Komm mit, Ginia“, sagt Rodrigues (Adrien Dewitte), der als Künstler lebt, und zieht die junge Frau in ihre Mitte. Ginias Gesicht leuchtet in höriger Dankbarkeit und glücklichem Staunen auf – dass sie ein Teil davon sein darf! Die Bewegung, mit der Rodrigues Ginia in den Kreis seiner Freunde zieht, verdichtet die Geschichte des Films auf eine Geste: das Hineingesogen-Werden in eine fremde Welt, die von außen idealisiert wird und in die sich Ginia deshalb so willfährig hineinziehen lässt, erste Red Flags ignorierend – etwa Rodrigues‘ verachtendes Lachen, als es Ginia stolz rausrutscht, dass sie nicht nur schneidert, sondern auch Schnittmuster anfertigt.
Wunsch nach Nacktheit

Zur Party und in diese Welt hinein hat sie Amelia (Deva Cassel) geführt, eine junge Frau, die Ginia erst kürzlich kennengelernt hat und die als Nacktmodell arbeitet. Der schöne Sommer spielt im Jahr 1938. Hier und da erinnert Luchetti daran, dass ein Weltkrieg im Begriff ist auszubrechen, aber Ginia interessiert sich nicht für Politik. Sie interessieren andere Dinge – Sex zum Beispiel. Amelias Sex-Appeal wirkt augenblicklich auf die sexuell unerfahrene Ginia. Es ist nicht schwer, ihre Faszination nachzuempfinden, bietet Amelia auf dem ersten Blick doch einen von Lust und Freiheit geprägten Gegenentwurf zu Ginias Leben: Ginia ist die junge Frau vom Land, betriebsam im Dienst anderer stehend. Im Modeatelier, in dem sie arbeitet, gibt es nur wenig Freiraum für ihren Gestaltungswillen. Die jungen Schneiderinnen arbeiten dort in streng hergerichteter Uniform, eisern wacht Signora Gemma (Anna Bellato) nicht nur über das makellose Aussehen ihrer gefügigen Armee. Was könnte da einen größeren Kontrast bieten, als nackt zu arbeiten; keine Nutzgegenstände herzustellen, sondern Kunst. Dass Amelia Nacktmodell ist, idealisiert Ginia zu einem Gefühl körperlicher, sexueller Selbsterfahrung und Selbstbestimmung. In ihr kommt der Wunsch auf, auch einmal Nacktmodell zu sein – „Ich möchte, dass mir jemand zeigt, wer ich bin.“
Die Vorstellung, dass jemand – genauer: ein männlicher Blick auf ihren nackten Körper; ein selbsternannter Künstler – ihr zur Selbstfindung verhelfen wird, löst der Film natürlich nicht ein. Rodrigues zelebriert seinen Schaffungsdrang, ist aber völlig unfähig, einen solchen auch in Ginia wahrzunehmen. Gleichzeitig wirkt Der schöne Sommer nicht sonderlich bemüht, Ginia eine Entwicklung einzuräumen, die über die Enttäuschung darüber hinausgeht. Letztendlich wird sie bestraft – am Ende steht sie schlechter da als zu Beginn des Films und soll sich glücklich schätzen, dass sie in Gestalt ihres Bruders (Nicolas Maupas) so einen guten Mann an ihrer Seite hat. Wenn Ginias Erfahrungen im „schönen“ Sommer etwas in ihr bewirkt haben, so erfahren wir es nicht.
Käfer an der Wand

Ähnlich eng ist der Raum, den der Film dem gewährt, was zwischen Amelia und Ginia entsteht. Dass Amelia kein von Zärtlichkeit und Rücksicht geprägtes queeres Gegenmodell zu der Art von Beziehung ist, die die Männer in diesem Film bieten, macht den Film vielschichtiger. Gleichzeitig irritiert es, dass es die queere Figur ist, die Ginia ins Verderben führt (das findet ein seltsam anmutendes Echo darin, dass Amelia später an Syphilis erkrankt und sich herausstellt, dass nicht einer ihrer männlichen Sexualpartner sie angesteckt hat, sondern eine Frau). Amelia ist Ginias Schlüssel in eine von ihr ersehnte, aber letztendlich schmerzhafte Welt voller patriarchaler Gewalt. Amelia ist diese Gewalt bewusst, sie warnt Ginia auch (halbherzig), lässt sie aber sehenden Auges hinein.
Vielleicht, weil es sie zu sehr schmerzen würde, sich einzugestehen, dass das, worüber sie Selbstbewusstsein und Identität bezieht – das vermeintlich Künstlerische, Freizügige, Freidenkende – auf Beziehungen fußt, in denen sie die unterlegene ist. Der schöne Sommer entscheidet sich dagegen, Amelia und Ginia zu Verbündete zu machen, ihnen die Chance zu geben, sich gemeinsam zu emanzipieren. Der Film ist schmerzhaft präzise in der Darstellung patriarchaler Gewalt – beeindruckend ist etwa die Szene, in der Ginia zum ersten Mal Sex mit einem Mann hat und ihr Blick nach dem Akt an einem Käfer an der Wand haften bleibt –, aber frustrierend unentschlossen in dem, was seine Protagonistinnen dieser Gewalt entgegenzusetzen haben.
Walzer für nichts

Zwei Momente ragen heraus: Im ersten trippeln Amelia und Ginia auf einem umgekippten Baumstamm, kommen voreinander zum Stehen und küssen sich. Beide müssen lachen, es wirkt aber nicht verlegen oder gar beschämt, sondern leichtherzig – ein freudiges Staunen über das, was ohne den Bezug auf Männer möglich ist. Im zweiten Moment bandelt Amelia auf einer Tanzveranstaltung mit einem Arzt an (auch für ihre medizinische Versorgung ist sie darauf angewiesen, ihre sexuelle Anziehungskraft einzusetzen). Als er fragt, welche der beiden Frauen mit ihm tanzen möchte, fordert Amelia unerwartet Ginia zum Tanz auf, der Arzt geht leer aus.
In diesem Moment können sich beide Frauen der Abhängigkeit von Männern entziehen, können sich selbst genug sein, können ihr Begehren auf ihre eigene Weise ausdrücken. Die Kamera ist ganz nah an den Gesichtern, an Amelias Hals, den Ginias Hände forsch erwandern, sie verdrängt die Außenstehenden von der Bildfläche, blendet die repressive Gesellschaft förmlich aus. Es erklingt der wunderbar anachronistische „Walzer für niemand“ von Sophie Hunger und man reibt sich ungläubig-verzaubert die Augen: War dieser Moment real? Es überwiegt aber nicht die Leichtigkeit einer Fantasie, sondern die Unzulänglichkeit der Andeutung. Walzer für niemanden, Walzer für nichts?
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