Der Schnee am Kilimandscharo – Kritik
VoD: Klassenkampf reloaded. Ein gefeuerter Hafenarbeiter fragt sich, wie viel Proletarier eigentlich noch in ihm steckt.

Immer wieder Marseille. Robert Guédiguian verschlägt es in seinen Filmen regelmäßig in die eigene Heimatstadt, die gleichzeitig malerische Kulisse und sozialer Brennpunkt ist. Mit Humor und Humanismus inszeniert er vornehmlich im Arbeiterbezirk L’Estaque seine kleinen Sozialdramen. Doch es gibt auch eine ideologische Konstante im Werk des französischen Regisseurs. Guédiguian ist Linker mit Leib und Seele, war früher Mitglied der Kommunistischen Partei und mischt heute beim französischen Pendant der Linkspartei mit. Den Filmen sieht man die Gesinnung ihres Machers durchaus an, und das nicht nur, weil sie von einfachen Leuten und ihren Problemen erzählen. Seine neueste Arbeit, Der Schnee am Kilimandscharo (Les neiges du Kilimandjaro, 2011), bildet da keine Ausnahme.
Michel (Jean-Pierre Darroussin) ist Hafenarbeiter und leidenschaftlicher Gewerkschafter. Eines Tages muss er mehrere Kollegen entlassen und feuert sich aus Solidarität selbst gleich mit. Sein neues Leben als Frührentner genießt er zunächst in vollen Zügen. Auf einer Party zu seinen Ehren bekommen er und seine Frau Marie-Claire (Ariane Ascaride) einen hohen Geldbetrag geschenkt. Angelehnt an ihr gemeinsames Lied „Les Neiges du Kilimandjaro“ von Pascal Daniel sollen die beiden damit eine Reise nach Afrika unternehmen. Als sie kurz darauf von zwei maskierten Räubern um dieses Geld erleichtert werden, scheint das zunächst ein Zufall zu sein. Erst nach einer Weile kommt Michel dahinter, dass einer der Räuber auf der Party gewesen sein muss.

Der Schnee am Kilimandscharo präsentiert uns zu Beginn eine Idylle. Zwar schleicht sich hier die Realität in Form von Stellenabbau ein, ansonsten konfrontiert uns Guédiguian aber mit unermüdlich optimistischen Menschen, die sich selbstbewusst den Problemen des Alltags stellen. Für kurze Zeit ändert sich durch den Überfall der Grundton des Films und Michel wird auf eine Detektivsuche geschickt, an dessen Ende sich sein ehemaliger Kollege Christophe (Grégoire Leprince-Ringuet) als Räuber erweist. Der Film könnte hier ohne weiteres vorbei sein. Michel ruft die Polizei, der Täter wird festgenommen, und die alte Ordnung ist wieder hergestellt. Doch eigentlich beginnt Der Schnee am Kilimandscharo zu diesem Zeitpunkt erst richtig.
Vor fast zwei Jahrzehnten lief im deutschen Fernsehen die amerikanische Serie Picket Fences – Tatort Gartenzaun (Picket Fences, 1992-96), bei der jede Folge nach demselben Muster gestrickt war: Ein Kriminalfall mit zunächst eindeutigem Sachverhalt wird durch eine anschließende Gerichtsverhandlung aufgearbeitet. Scheint es zunächst noch so, als wären keine Fragen offen, treten immer mehr Informationen ans Tageslicht, bis der Täter schließlich zum Opfer geworden ist und sich das anfängliche Urteil des Zuschauers in sein Gegenteil verkehrt hat.

Wenn Guédiguian in seinem Film auf ähnliche Weise vorgeht, zeichnen sich einige schwer nachvollziehbare Thesen ab. Denn je stärker sich Michel mit Christophes Lebensverhältnissen auseinandersetzt, desto geringer wird sein Durst nach Rache. Von seiner egoistischen Mutter allein gelassen, muss der Dieb ganz alleine auf seine minderjährigen Brüder aufpassen und scheint auch ansonsten ein ehrenwerter Mensch zu sein. Schließlich beginnt Michel sein eigenes Leben zu hinterfragen und muss sich eingestehen, dass er schon lange kein Arbeiterleben mehr führt. Wie er es sich auf der Dachterrasse mit Freunden und einem Glas Wein gemütlich macht, ist vor allem eins: bourgeois.
Die Frage, ob es sich ein einstiger Working Class Hero zu sehr auf seinen Lorbeeren gemütlich gemacht hat, ist ebenso legitim wie interessant. In Der Schnee auf dem Kilimandscharo entwickelt sich plötzlich ein Klassenkampf, bei dem scheinbar alle Beteiligten aus derselben Schicht stammen. Wie viel Sympathie man dem Film letztlich aber entgegenbringt, hängt davon ab, wie weit man Guédiguians politischer Gesinnung folgt. Von konservativer Seite wird Linken gerne vorgeworfen, Verbrecher zu Opfern äußerer Umstände zu machen. Guédiguian schlägt mit seinem Film genau in diese Kerbe. Immer wieder wird betont, dass Christophe aus sozialer Not heraus zum Täter geworden ist. Schuld hat letztlich Michel, aus dem einfachen Grund, weil es ihm finanziell besser geht.
Der Konflikt des Films wird schließlich mit einer fast märchenhaften Wendung gelöst. So stark sich Guédiguians Realismus von Aki Kaurismäkis extremen Stilisierungen unterscheidet, so ähnlich sind sich dann doch die neuen Filme der beiden Regisseure. Der Schnee am Kilimandscharo ist nicht nur wie Le Havre in einer französischen Hafenstadt angesiedelt, er behandelt auch reale soziale Probleme mit unerschütterlichem Optimismus. Ein Deus ex machina ist es schließlich, der den Film mit einer sozialen Utopie enden lässt, in der sich sämtliche Komplikationen plötzlich in Wohlgefallen auflösen. Die Naivität, mit der Guédiguian an eine bessere Welt glaubt, besitzt da fast schon wieder einen gewissen Charme.
Der Film steht bis 09.08.2022 in der Arte-Mediathek.
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