Der Riese – Kritik
Von der Geilheit des allmächtigen Blicks.

Über Michael Kliers Der Riese (1983) muss man sprechen, wie man über Musik spricht. Der Film ist eine Sinfonie in mehreren Sätzen, jeder grundiert in einer anderen Spielart und Färbung. Komponiert aus den Aufzeichnungen von Überwachungskameras und Stücken Wagners und Rachmaninows, zeigt Der Riese die Auswüchse der in den 1980er Jahren inflationär sich verbreitenden Sicherheitstechnik. Das Material kommt so schlicht und ungehobelt daher wie die ersten Takte eines Beethoven-Themas; es will nicht angeben, nicht einmal vordergründig schön sein, und doch glänzt es in düsterem, von der Beklemmung einer technozentrischen Zukunftsvision fast schmerzlich gemildertem Pathos.
Filmisches Understatement, so simpel kann es sein. Ein Found-Footage-Film gewinnt plötzlich an dramatischer Brisanz wie sonst nur eine breitenwirksam prononcierte Inszenierung. Das Vergehen der Zeit, der unaufhaltsame Strom des Faktischen gerät hier vollends zur Bildwirklichkeit. Dieser Rhythmus ist zäh, ja geradezu anti-kinematografisch, weil er unseren auf Zeitraffung und Auslassung getrimmten Sehgewohnheiten zuwiderläuft. Eigentlich passiert nichts; die Ereignisse schippern bloß im gemächlichen Erzählfluss des Lebens. Ein Flugzeug landet. Der Verkehr schleppt sich stadteinwärts wie das Blut in den Venen zum Herz. Die Welt ist eng und überbevölkert. Das wussten wir auch schon, doch plötzlich wird diese Idee spannend. Wir sehen zu, wie es weltet. Abgefilmtes Leben, musikalisch nicht erst durch ein spätromantisches Streicherflirren, sondern bereits durch den Takt des Alltäglichen selber; ein nebulöses Bilderrauschen von öffentlichen Plätzen, Gebäudetrakten und Gesichtslosen.

Erstaunlich, wie die Welt, diese gigantische Umkleidekabine, durch das Orwell’sche Auge betrachtet, für uns faszinierend wird; wie wir beobachten, in fremde Gesichter schauen; wie bald jeder individuelle Charakterzug unter dem morbiden mattgrauen Schleier der optischen Indifferenz verschwimmt. In Zeiten hochauflösender Überwachungssysteme mit Gesichtserkennung gewinnen solche diffusen Schwarzweißbilder direkt an ästhetischem Mehrwert. Fast besitzen sie noch die Unschuld alter Filmaufnahmen, deren Grobkörnigkeit und Sfumato-ähnlicher Schmelz regelrecht malerische Qualitäten entwickeln.
Der Riese, ein filmischer Essay über die Macht des Bildes und die Macht derer, die die Macht über die Bilder besitzen, zeigt ein panoptisches Überwachungsprinzip und stellt es sogleich wieder infrage. Denn zuletzt reduziert sich alle Welt, die erspäht werden will, auf ein einziges Bildfeld. Da hilft kein Schwenken, Neigen oder Zoomen – Klier macht deutlich, wie ausschnitthaft nur mehr geschaut werden kann, wie der Kader des Kameraauges, das unsere Wahrnehmung extendiert, den Blick apparativ mehr verengt als weitet; wie eigentlich das, was man sehen will, immer außerhalb liegt und selten innerhalb des Bildes.

Zu allen Seiten drängt Leben herein; Passanten, Namenlose – der Zufall hat sie ins Bild geschleust. Manchmal hört man Stimmen aus dem Off, die sich dazugesellen, Stimmen einer Behörde, die im Befehlston Anweisungen erteilt wie der bettlägerige, doch umso wortmächtigere Advokat in Welles’ Prozeß (Le Procès, 1962). Ein Ladendieb ist vom Sicherheitsdienst in einem Kaufhaus entdeckt worden. Präzise dirigiert der vor dem Bildschirm sitzende Wachhabende den Hausdetektiv durch die Verkaufsräume zur Zielperson. Das ist schon nicht mehr Orwell, sondern Wirklichkeit. Einmal mehr hat, mit dem schleichenden Umbau zum Präventionsstaat, der sich ungeniert am technischen Fortschritt labt, das Leben die Kunst imitiert. Diese Sequenz, die aus einem Krimi stammen könnte, demonstriert in ihrer perfid-apparativen Penetrationslust die ganze Geilheit der Epoche auf eine Durchtechnisierung des Alltags, was nicht zuletzt die dystopischen Kino-Fantasien der Dekade (Blade Runner, 1982, Terminator, 1984 usw.) treffend bezeugen.

Zugleich ist die Ladendieb-Sequenz auch eine kritische Auseinandersetzung mit dem Metier des Filmemachens. Wer blickt hier, filmt hier überhaupt? Wer ist dieser Riese im Zwergenvolk? Doch nicht weniger Freund Zufall als der Gewalthaber über den Film; oder muss selbst ein Regisseur wie Klier kleinmütig beigeben angesichts der Bildmächtigkeit von Aufzeichnungssystemen, die keinen Regisseur mehr verlangen, sondern quasi autonom funktionieren? Zum Schluss eine Vorwärtsbewegung; Wohnviertel, Bäume – wo ist man? Nach einer Weile entpuppt sich die Idylle als Modellstadt aus Pappmaché, die eine computergesteuerte Miniaturkamera abfährt. Das nimmt den 360-Grad-Rundblick von Google Street View geradezu prophetisch vorweg. Wir sind jederzeit abbildbar, auffindbar, digital ausgeschlachtete Gehirne. Und wohin fährt diese Kamera dann, wenn nicht – was nur logisch wäre – direkt von der Rampe des Modells in unsere Köpfe, wo das Offensichtliche geschieht und unsere Träume endlich ausgeplündert werden.
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Kommentare
DERHANK
Klingt spannend! Will ich sehen!!! Aber wo? Wie? Läuft nicht im Kino, gibt's nicht als DVD, läuft nicht auf Youtube, bei ebay auch nix :(
Also wie kommt der, dessen Neugierde hier geweckt wird, in den inneren Zirkel der Filmwissenden???
(ein Problem, das ich viel zu oft auf dieser meiner Lieblings-Film-Webseite habe)
Michael
Doch, gibts seit Ende Dezember schon auf DVD und zwar bei der Filmgalerie 451 (http://www.filmgalerie451.de/). Neben dem Text ist auch ein Amazon-Link, der direkt zur DVD führt. LG
DERHANK
Tatsächlich! Vielen dank!
3 Kommentare