Dead Angel – Kritik
Es gibt keine bürgerliche Unschuld im Faschismus: Im Franco-Regime konnte Regisseur Eloy de la Iglesia davon nur im Gewand eines Fantasiestücks mit Kubrick-Referenzen erzählen. Der erstmals auf DVD erschienene Serienkiller-Thriller Dead Angel (1973) ist ein kleines Wunderwerk des europäischen Genrefilms.

Das Grauen kommt aus dem Fernseher. Gerade noch hat es sich die wohlhabende dreiköpfige Familie auf dem Sofa vor der Mattscheibe gemütlich gemacht, auf der Stanley Kubricks Uhrwerk Orange (A Clockwork Orange, 1971) angekündigt wird. Nebenbei bemerkt, ein eher seltsames Programm für den etwa zehnjährigen Sohn, der aber zumindest die Ankündigung ohnehin verpasst, weil er zur Tür eilt, als es klingelt. Statt seines erwarteten Onkels steht eine Motorradgang vor der Tür, die in ihrer engen, schwarzen Lederkluft mit den orangefarbenen Helmen und den Peitschen deutlich eine ultra-billige Version der Bande um Alex (Malcolm McDowell) darstellt – so wie das protzig durchgestylte Wohnzimmer offensichtlich die B-Movie-Variante der berühmten futuristischen Interieurs des Kubrick-Films ist. So findet sich die Familie plötzlich mittendrin statt nur dabei. Sehr zu ihrem Leidwesen, denn wie in A Clockwork Orange läuft der Überfall in Dead Angel – Einbahnstraße in den Tod (1973) auf eine Vergewaltigung hinaus.
Zwei Vergewaltigungen, eine Ersatzhandlung

Genauer gesagt, und damit beginnt sich die Handschrift des Regisseurs Eloy de la Iglesia in dieser Kubrick-Reformulierung abzuzeichnen: auf zwei Vergewaltigungen. Denn während einer der Männer sich mit der Mutter in ein Zimmer zurückzieht, um sich an ihr zu vergehen, tut ein anderer das Gleiche mit dem Vater. Ein dritter bleibt mit dem Sohn im Wohnzimmer zurück, streichelt ihm über die Wange und den blonden Schopf – und schlägt dann mit seiner Peitsche die Möbel in Stücke. Vielleicht ist das eine destruktive Ersatzhandlung für eine dritte, nunmehr pädosexuelle Variante der Gewalt – oder aber in der Zerstörung findet sich die Möglichkeit echter Zuneigung für das Kind sublimiert.

Bereits vorher wurden wir mit einer weiteren Kubrick-Referenz zugleich in eine andere Gesellschaftsschicht als die der Motorradgang eingeführt. Sue Lyon, die 1962 Lolita gab, spielt die Krankenschwester Ana Vernia (in einer Szene sehen wir sie mit Perücke und riesiger Sonnenbrille als ältere Dame verkleidet in Vladimir Nabokovs Romanvorlage lesen). Zu Beginn erhält sie eine Auszeichnung für besondere Verdienste bei ihrer Arbeit. Sie ist liiert mit dem Arzt Victor Sender (Jean Sorel), der an geheimen Experimenten zur Resozialisierung von Kriminellen arbeitet. Und auch bei den gediegen Gutbürgerlichen, die die Auszeichnung bei einem Candle-Light-Dinner feiern, kommt das Grauen aus einem der Fernseher, die in der Welt des Films omnipräsent sind (und zwar ausdrücklich auch als Instrumente der Indoktrination und Propaganda, sei es in Form von Werbung oder aber durch die Durchsagen staatlicher Behörden): Die Nachrichten berichten von einer Mordserie an jungen Männern aus prekären sozialen Verhältnissen. Schnell wird sich Ana als die Täterin erweisen.
Kino vor und nach der transición

Mit dem Tod Francisco Francos 1975, der die Grundlage für die transición, den Übergang der spanischen Gesellschaft vom Faschismus zur Demokratie, bildete, sollte sich auch das Kino Eloy de la Iglesias, dessen Karriere als Regisseur und Drehbuchautor insgesamt einen Zeitraum von mehr als 35 Jahren umfasst, entschieden verändern. Die neuen Freiheiten schlugen sich in seiner Filmografie nieder, indem er nunmehr seine Vermengung von linker Politik und schwulem Begehren in eine ziemlich eigene Form psychosexueller Sozialdramen überführte. Seine Arbeiten der frühen 1970er hingegen sind Filme, die auch gut ins europäische, insbesondere italienische Genre- und Exploitationkino der Zeit passen würden. Mit dem entscheidenden Unterschied, dass das Franco-Regime im Kino wesentlich weniger Möglichkeiten bot, der Gesellschaft frei heraus kritisch den Spiegel vorzuhalten.

So wurde etwa im ein Jahr vor Dead Angel erschienenen La semana del asesino („Die Woche des Mörders“, in Deutschland als Cannibal Man vermarktet) das schwule Melodram, das sich hinter der Fassade dieses anderen Serienkiller-Thrillers versteckte, von der Zensur deutlich entschärft; ein leidenschaftlicher Kuss zwischen den beiden männlichen Hauptfiguren fiel der Schere zum Opfer. Die rigide Kritik an der sozialen Realität der Klassengesellschaft im Allgemeinen und dem Bürgertum im Besonderen in Dead Angel war mutmaßlich in dieser Form nur deshalb möglich, weil der Film zwar an Originalschauplätzen in Madrid gedreht wurde, aber vor allem durch die vielen Bezüge zu Stanley Kubrick vorgibt, von einer Kino-Science-Fiction-Fantasie-Welt zu erzählen – nicht vom Spanien des Jahres 1973.
Schuldverstrickung bürgerlicher Normalität

Auf der politischen Ebene geht es mit dem Paar, dessen weiblicher Teil mordet, während der männliche im Auftrag der Regierung mit Menschen experimentiert, um die notwendige Schuldverstrickung bürgerlicher Normalität in einer Gesellschaft, in der der Staat Menschen foltert und „verschwinden lässt“. Das auch im damaligen italienischen Kino beliebte Narrativ, bei dem die Hauptfiguren aus der Mittel- oder Oberschicht sich letztlich als boshafter und skrupelloser erweisen als die gesellschaftlichen Außenseiter, aus denen sich ihre kriminellen Kontrahenten rekrutieren, wird hier deutlich zugespitzt: De la Iglesia erzählt davon, dass es keine (bürgerliche) Unschuld im Faschismus gibt. Und findet dafür ein so einfaches wie prägnantes und erhabenes Bild: In einer Szene sehen wir Ana zu den sublimen, immer wieder an Morricone gemahnenden Klängen der Filmmusik von Georges Garvarentz schlafwandlerisch, majestätisch durchs Bild schreiten, das gleißende Weiß ihres wallenden Nachthemds besudelt vom Blut ihres letzten Opfers.

Zwischen die Fronten des Klassenkampfes, der sich zu einem veritablen Krieg ausgewachsen zu haben scheint, gerät dabei der junge David (Christopher Mitchum). Ursprünglich der Anführer der Motorradgang, wird er schließlich durch eine Meuterei seiner drei Kumpane entmachtet, von ihnen brutal zusammengeschlagen und schwer verletzt alleine seinem Schicksal überlassen. Er kommt Ana auf die Schliche, die in diversen Verkleidungen ihre Opfer jagt. Doch muss er bald einsehen, dass er sich an der Frau, die er nun zu erpressen versucht, mächtig überhoben hat.
Stilistischer Exzess mit politischem Anliegen

Ästhetisch ist De la Iglesias Film, der im Original auf den wunderbar poetischen Titel Una gota de sangre para morir amando („Ein Blutstropfen, um liebend zu sterben“) hört, ein kleines Wunderwerk des europäischen Genrefilms seiner Zeit: von einer Umschärfung von der Flamme einer Kerze auf das Paar am Tisch über eine surreal psychedelische Montagesequenz, die eine Orgie der Bande zeigt, bis zu einer Szene gegen Ende, die im Rhythmus des Herzschlags von Anas letztem Opfer, der bald für immer aussetzen wird, geschnitten ist. In der letzten Szene finden der stilistische Exzess und das politische Anliegen eindrucksvoll zusammen. Das Grauen, das den ganzen Film über aus dem Fernseher kam, muss endlich in den Fernseher zurückkehren: Durch ein Fenster, das deutlich einem zeitgenössischen TV-Bildschirm nachempfunden ist, aber dabei zugleich an ein Aquarium erinnert, blicken wir auf ehemalige Schwerverbrecher, die in feiner Abendgarderobe fürstlich dinieren. Gerade da, wo sich der Film das erste Mal auf eine simple Satire bürgerlicher Normalität einlassen könnte, löscht er sie sogleich im finalen Splatter-Exzess mit brachialer Gewalt wieder aus.
Für De la Iglesia bedeutet das auch, dass aus den fiktiven Welten, in die er sich (mutmaßlich vor den Zensoren) flüchtete, keinen Weg zurück gibt in die soziale Realität der spanischen Gegenwart. Gerade das macht Dead Angel zu seinem düstersten, pessimistischsten Film.
Eine Einführung ins Werk von Eloy de la Iglesia gibt es hier.
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