DAU. Natasha – Kritik

Kann man ein Werk bejubeln, das eine solche gewaltvolle Produktionsgeschichte um Regisseur Ilya Khrzhanovskiy hinter sich hat? Angesichts von DAU. Natasha, dem ersten filmischen Auszug aus dem Projekt, stellt sich dieses Problem kaum.

Viel geht diesem Film voraus. Zunächst eine Produktionsgeschichte, deren Mammuthaftigkeit sich über die kolportierten Zahlen vermittelt: 120 Hauptschauplätze, 10.000 Komparsen, 400 Hauptrollen, 40 Monate Drehzeit auf einem 12.000qm-Set und 700 Stunden gefilmtes Material – was mir vergleichsweise wenig erscheint. Von 2009 bis 2011 lief das DAU-Projekt Sergey Adonyevs und Ilya Khrzhanovskiys in einem eigens erbauten „Institut für Erforschung von Physik und Technologie“ im ukrainischen Kharkiv, das sowjetischen Forschungsinstituten nachempfunden wurde und in dem die Darsteller während der Laufzeit tatsächlich wie in der (irgendwo zwischen 1938 und 1968 verorteten) Sowjetunion gelebt haben sollen. Vor allem aber ist in den letzten Tagen ein Produktionsskandal durchgesickert, der ziemlich ernst klingt: Am Set sollen sich sektenhafte Strukturen entwickelt haben, soll Khrzhanovskiy seine Machtposition ausgenutzt und sexuelle Demütigungen und Übergriffe als Regiemittel genutzt haben, soll auch Faschisten und, für die Inszenierung einer Verhör- und Folterszene, einen früheren KGB-Agenten aufs Set eingeladen haben.

Überschrittene Grenzen überschreiten

Im eigenen Freundeskreis, von dem ein Teil mit Khrzhanovskiy während der Planung eines DAU-Projekts in Berlin zu tun hatte, höre ich, dass er solche Entscheidungen mit der Authentizität der Szenen begründet hat. „Echter“ Sex, „echte“ Trunkenheit, „echte“ Erniedrigung, „echte“ Folter usw.: Dafür musste das „Institut“ zu einem Gewächshaus werden, in dem die missbrauchenden Machtstrukturen vor sich hin gedeihen konnten, was auch das Presseheft beschönigend bestätigt: „Sie arbeiteten, kleideten sich, denunzierten sich und hassten einander. Dieses ungeskriptete Leben im Institut wurde während der gesamten Dauer des Experiments … ununterbrochen gefilmt.“

Sich die zweieinhalb Stunden Material, aus denen DAU. Natasha besteht, nun ohne irgendwelche Erwartungen, Vorstellungen und Meinungen anzuschauen, scheint somit ziemlich unmöglich. Dementsprechend verläuft auch meine Reaktion: Auf seltsame Weise haben die Berichte die Erwartung geschürt, in irgendeine Richtung extrem auf diesen Film zu reagieren. Nach der Sichtung erleichtert mich dann aber meine Enttäuschung: Hätte dieser ganze Authentizitätsexperiments-Kram, von dem Khrzhanovskiy wohl ständig redete, tatsächlich funktioniert, also irgendeine intensivere Wirkung, genauere Beobachtung oder zumindest neuartige Erfahrung ermöglicht, wäre ich vor die persönliche Aufgabe gestellt, zwischen einem eindrücklichen Kinoerlebnis und dem Wissen um eine abartige Produktionsgeschichte vermitteln zu müssen. Aber dazu kommt es gar nicht, weil DAU. Natasha kaum etwas aus seiner Produktionsweise zieht, kaum etwas davon sich wirklich ins Bild rückt, als Film generell ziemlich fad ist und höchstens Grenzen überschreitet, die längst überschritten worden sind.

Fades Impro-Gelächter

Aber von vorn: In DAU. Natasha geht es eben um eine Natasha (Natalia Berezhnaya), die zusammen mit ihrer Kollegin Olya (Olga Shkabarnya) die sowjet-triste, leuchtstoffbeleuchtete Kantine des „Instituts“ schmeißt und die männlichen Physiker bewirte. Wie sie da am Anfang von allen gemocht wird, den Kindern Apfelsinen schenkt, wirkt sie ein bisschen wie die gute Seele des Hauses. Aber natürlich interessieren sich Khrzhanovskiy und Co-Regisseurin Jekatarina Oertel nicht für gute Seelen, sondern eher für seelische Abgründe, die sich in den abendlichen Trinkgelagen (manchmal zwischen dem ganzen Kollegium, manchmal nur zwischen Natasha und Olya) offenbaren sollen. Viel hält der Film also drauf, viel soll bei diesen „echten“ Szenen herumkommen, soll sich entwickeln, soll glaubwürdiger sein als anderes, soll mehr eskalieren – wirkt dann aber doch nur wie maximal mittelmäßiges Impro-Theater, bei dem die Regie ab und zu Ideen hereingibt: Essen wird herumgeworfen, Möbel werden zertrümmert, immer wieder gibt es schrilles Gelächter und Kotzeinlagen von Olya, und über nichts geringeres als die Liebe wird dann plötzlich geredet: Was sie für Natasha ist und wie sie Olya vorwirft, nie geliebt zu haben, worauf dann ein Gerangel losgeht, das, wie der spätere Sex, die Erniedrigungen, Saufereien, Vergewaltigung, Folter-Verhöre, zwar irgendwie beklemmend wirkt – aber eben kaum mehr, als solche Szenen es auch in anderen Filmen tun.

Traurige Pointe

Khrzhanovskiy möchte kontrovers sein, sein Gestus plant Verachtung und Verehrung gleichermaßen ein, aber nicht mal zum genüsslichen Hass bietet sich mir sein Film an: Natürlich sieht man da etwa die Penetration beim Sex, in Russland läuft gerade ein Verbotsverfahren wegen dem Vorwurf der Pornografie. Aber zum einen ist das im Spielfilm sowie nichts wirklich Radikales mehr. Zum anderen hält der Film nicht voll drauf, sondern erhascht da immer nur ein paar Blicke, will sich den Vorwurf der Sensationslust nicht anheften und trotzdem noch als edgy verstanden wissen. Genauso wie die Verhörszene mit dem „echten“ KGB-Agenten, die der Film plötzlich einfach auftauchen lässt: Sie scheint radikal einfach in den Film hineingesetzt, aber trotzdem noch schnell mit einem dünnen dramaturgischen Faden verbunden (Natasha wird verhört, weil sie Sex mit einem nicht-russischem Wissenschaftler hatte). Vielleicht fällt dadurch ja doch noch irgendeinem Zuschauer irgendeine schlaue Beobachtung zum Thema der institutionellen Gewalt ein.

Die traurige Pointe dieses Films: DAU. Natasha braucht die skandalträchtige Kraft seiner Produktionsgeschichte, damit man sich irgendwie für ihn interessieren kann. Aus eigener Kraft erarbeitet er sie sich nicht, weder im positiven noch im negativen Sinne. Der neue Berlinale-Leiter Carlo Chatrian hat in einem Interview angegeben, ungeschnittenes Material in seinem Auswahlprozess gesichtet und Khrzhanovskiy gebeten zu haben, daraus einen Film zu machen, allem Anschein nach um „so ein Riesenprojekt auf einem Festival überhaupt präsentieren“ zu können. DAU. Natasha sieht für mich tatsächlich so aus, als wäre er ohne seinen Produktionshintergrund nie auf der Berlinale gelandet.

Neue Kritiken

Trailer zu „DAU. Natasha“


Trailer ansehen (2)

Neue Trailer

alle neuen Trailer

Kommentare

Es gibt bisher noch keine Kommentare.






Kommentare der Nutzer geben nur deren Meinung wieder. Durch das Schreiben eines Kommentars stimmen sie unseren Regeln zu.