Das Wunder – Kritik
Eine wundersame Heilung, die so ähnlich auch in der Bibel stehen könnte, aber irgendwo zwischen Seifenoper, Musikvideo und Bravo Fotolovestory inszeniert ist. In Eckhart Schmidts übersinnlichem Melodram werden Popkonzerte zu Gottesdiensten und Gläubige zu Groupies.

„Überall ist Nebel.“ Die blinde Raphaela (Anja Schüte) bekommt auf dem New-Wave-Konzert in der Olympiahalle einen Audiokommentar von ihrem Freund. Aber obwohl sie nicht sieht, wie sich der Sänger mit den blonden, auftoupierten Haaren nervös im Rhythmus der Musik wiegt und die Bühneneffekte ihn dabei mysteriös und unnahbar erscheinen lassen, überträgt sich die andächtige Stimmung auf sie.
Der Auftakt von Eckhart Schmidts übersinnlichem Melodram Das Wunder (1985) findet seine Entsprechung am Schluss: Zwar gibt es statt Bühne und Publikum nur einen romantisch angehauchten deutschen Wald, aber der Moment ist doch ähnlich feierlich und ekstatisch. Diesmal ist aber Raphaela der Star oder besser gesagt die Heilige – aber das ist in diesem Film auch irgendwie dasselbe.
Geburtshelferin für ein Wunder

Zunächst wirft uns Schmidt aber in eine Welt ohne Liebe. Die Heldin lebt am reichen Münchner Stadtrand, wo sie ständig in die Schusslinie ihrer streitenden Eltern gerät. Die Percussions auf dem Soundtrack hämmern immer schneller, die Stimmung ist beklemmend. Bald verlässt Raphaela auch ihren Freund, von dem sie das Gefühl hat, er wäre ohnehin nur aus Mitleid mit ihr zusammen. Nur mit ihrer Betreuerin Maria (Anoushka Renzi) ist alles anders. Das bieder gekleidete und immer etwas unheimlich dreinblickende Mädchen führt zwar offensichtlich etwas im Schilde, ist aber auch die Einzige, die Raphaela Aufmerksamkeit und Liebe schenkt.

Obwohl der Schauplatz modern und urban ist, ist die Vorstellung einer höheren Macht von Anfang an Teil des Films. Selbst Raphaelas gottlose Eltern sind der festen Überzeugung, dass die Blindheit ihrer Tochter eine Strafe der Natur ist; weil sie sich das Kind nach der Villa und der Weltreise wie einen Luxusgegenstand gegönnt haben. Auch Raphaela, deren Blindheit wohl auch metaphorisch zu verstehen ist, bleibt abhängig von äußeren Kräften. Maria führt sie an der Hand, aber im übertragenen Sinn auch zur Religion. Wie ein Echo wiederholt Raphaela das von ihr vorgesprochene „Gegrüßet seist du Maria“. Aber so manipulativ Maria auch manchmal wirkt, am Ende ist sie doch nur eine Art Geburtshelferin für das Wunder, mit dem der Film schließt.
Religiöse Oberflächenreize

Wenn ein Regisseur, von dem erst drei Monate zuvor ein kühler, abstrakter und mythisch aufgeladener Genrefilm wie Alpha City in den deutschen Kinos lief, plötzlich völlig ironiefrei eine religiöse Erweckungsgeschichte erzählt, darf man ruhig irritiert sein. Tatsächlich zeigt der nach Aussagen des Regisseurs von Douglas Sirk inspirierte Film aber doch mehr Kontinuitäten zu Schmidts stylishen 1980er-Filmen als gedacht. Raphaela ist ähnlich entschlossen und hingebungsvoll wie die Protagonistinnen aus Der Fan (1982) und Das Gold der Liebe (1983); nur bezieht sich ihre Sehnsucht nicht auf einen idealisierten Popstar, sondern ein glücklicheres Leben. Und so wie Handlung und Figuren bei Schmidt häufig Archetypen bleiben, ist auch die Religion eher ein allgemeines Symbol mit besonderen Oberflächenreizen. Der Rosenkranz ist sowohl Kultgegenstand, in dem sich Raphaelas Begehren bündelt, als auch schickes Modeaccessoire.

Zunächst wirkt es noch so, als würde Das Wunder auf eine herkömmliche Opposition zwischen kaltem Materialismus und ursprünglicher Menschlichkeit vertrauten. Raphaelas Vater (Raimund Harmstorf) etwa ist der Chef einer Firma, in der Menschen von Maschinen ersetzt werden. Wenn er wie ein braungebrannter und muskelbepackter Riese neben seiner zierlichen Tochter steht und nicht aufhören kann, seine Hanteln zu schwingen, wirkt er selbst ein wenig wie eine Maschine. Auch die hoffnungslos hysterische Mutter (Dagmar Lassander) läuft nur noch auf Autopilot, brüllt den anderen immer nur dieselben Vorwürfe entgegen, verfällt zwischendurch kurz in Lethargie und plant dann mal wieder einen theatralischen Selbstmordversuch.
Pop-Gottesdienst

Doch auch wenn Schmidts Figuren zu sich selbst finden müssen, werden dabei das Profane und das Heilige nicht gegeneinander ausgespielt. Die Geschichte vom wundersam geheilten Mädchen könnte so ähnlich vermutlich auch irgendwo in der Bibel stehen. Aber Schmidt inszeniert sie als eine Mischung zwischen Seifenopfer, Musikvideo und Bravo-Fotolovestory. So wie das Konzert zu Beginn auch nur eine Art von Gottesdienst ist, sind die Gläubigen, auf die Raphaela während ihrer Pilgerfahrt in Altötting trifft, auch nur Groupies. Ob Raphaela ausgelassen in der Disco tanzt oder begleitet von Chorälen ihrer göttlichen Heilung entgegenschreitet, beide Male ist sie ganz bei sich. Raphaela muss dem Weltlichen nicht entsagen, weil die Heilsversprechen der Religion und die Utopien des Pop für sie dieselbe Funktion haben.

Am Schluss kommen die höheren Mächte doch noch einmal zum Einsatz: Die Erde (oder zumindest die Kamera) beginnt zu beben und der Boden teilt sich. Die Naturgewalten scheinen jedoch weniger vom Allmächtigen als von Raphaela selbst auszugehen. Glauben bedeutet in Das Wunder nicht blindes Gottvertrauen, sondern vor allem, an sich selbst zu glauben. Das gilt auch für uns Zuschauer, wenn die sehende Raphaela ihren Blick in die Kamera richtet und einen jener Schmidt-typischen Sätze sagt, die allgemein genug sind, dass jeder sich angesprochen fühlen kann: „Wir haben eine Chance. Alle.“
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