Das Mädchen und die Spinne – Kritik
Wann endlich bemerken wir, dass alles schwankt? Auch in ihrem zweiten Film arbeiten Roman und Silvan Zürcher akribisch an der Errettung der äußeren Unwirklichkeit. Das Mädchen und die Spinne tauscht dabei nur familiäre gegen libidinöse Bande ein.

Das PDF hat’s zerschossen! Der Text ergab auf einmal keinen Sinn mehr, der Grundriss der Wohnung, den Mara für Lisa ausgedruckt hat, war nicht mehr zu erkennen, nur weirde Balken und Kreise überall. Einmal die Datei geschlossen und wieder geöffnet, dann war (zum Glück?) alles wieder da. Mara (Henriette Confurius) erzählt diese Begebenheit so, wie Figuren in Filmen von Ramon und Silvan Zürcher Begebenheiten erzählen. Die radikal dezentrale Ästhetik weicht dann einem radikal subjektiven Zuschnitt, die Kamera fokussiert die Sprecherin, die Sprache wandert vom betont Alltäglichen ins betont Literarische (von literally zu literary), der Film wird zum Ein-Personen-Stück. „Ich habe die Datei noch mehrmals wieder geschlossen und geöffnet“, sagt Mara fast traurig, „aber es ist nicht wieder passiert.“ „Ich dachte, PDFs sind unveränderlich“, raunt Lisa (Liliane Amuat) aus dem Off.
Allzu Zwischenmenschliches

Lisa und Mara sind Mitbewohnerinnen, gerade noch. Lisa ist am Ausziehen, Mara, ein paar Freunde und Lisas Mutter helfen beim Vorbereiten und Tragen. Das Mädchen und die Spinne kreist wie schon Das merkwürdige Kätzchen (beide Filme sind Teil einer geplanten Trilogie) um eine simple Ausgangssituation, ist aber breiter angelegt als der Vorgänger, der noch stärker auf seinen einzigen Schauplatz einer Wohnung reduziert war. Im zweiten Langfilm der Zürchers gibt es sogar eine Nacht, in der es heiß hergeht, nicht nur, weil Jan (Flurin Giger) nach Lisas Abschiedsparty bei Kerstin (Dagna Litzenberger Vinet) aus der Nachbar-WG im Bett gelandet ist. Die erratische Nora (Lea Draeger) lugt nur mit einem Motorradhelm bekleidet in Kerstins Zimmer, und Mara sieht aus dem Fenster die alte Frau Arnold von oben im Nachthemd lachend auf dem Dach stehen.
Doch diese Ausflüge ins Surreale bleiben stets im Dienst des Hyperrealen, denn es geht auch in Das Mädchen und die Spinne um allzu Zwischenmenschliches, im Vergleich zum Vorgängerfilm allerdings aufgeladen mit ordentlich Libido. Wo keine Familienbande mehr im Zentrum stehen, kann begehrt werden, und so sind hier alle, auch Lisas Mutter und der etwa gleichaltrige Jurek, sowas von flirty und touchy unterwegs. Heimliche Zuneigung, sich in angedeuteten Sadismen ausdrückende Aggressionen und unverblümte Lust halten sich dabei die Waage und scheinen recht demokratisch auf die Teilnehmenden verteilt. Nur dass Entscheidendes eben ungesagt bleibt und höchstens über Umwege ankommt. Das Begehren bleibt im Blick, die Verständigung auf der Strecke. Toll ist das, weil Fehlkommunikation und Missverständnisse nicht auf irgendeine Entfremdung vom Eigentlichen zurückgeführt werden, sondern auf die Logik der Sprachspiele selbst.
Wer hat’s zerschossen?

So redet man miteinander und aneinander vorbei, und jede passende Antwort ist ein Wunder, weil eben nichts unveränderlich ist, nicht einmal PDFs. Stattdessen Störungen überall: Man kommt beim Tippen aus Versehen auf die Alt-Taste, und schon wird ein unschuldiges t zum To†enkreuz. Immer wackelt irgendwo was, wie Lisas ausgeräumter Schrank, Löcher sind auf einmal in der Haut (wenn man das Piercing rausnimmt) und im Plastikbecher (wenn man einen Bleistift reinbohrt), und durch beide kommt der Wein durch. Maras Pulli ist voller Fussel (kommentiert Lisa), weil sie ein Taschentuch mitgewaschen hat, Lisas alte Daunenjacke hat ein Loch, und so machen sich bald Federn breit im ganzen Film, landen erst auf Köpfen, machen damit Mensch und Hund zum Huhn (kommentiert Kerstin), fallen schließlich als veritabler Schnee vom Himmel auf die Straße.
Unschärferelationen, wo man auch hinsieht. Die Störung des Systems ist kein Ereignis, sondern Prinzip, weil nicht sie, sondern das reibungslose Funktionieren der Erklärung bedarf. Das zerschossene PDF erscheint gerade deshalb als existenzielle Verunsicherung, weil in ihm zwar der Grundriss von Lisas neuer Wohnung nicht mehr erkennbar ist, vielleicht aber der Grundriss des Lebens. Und wenn das Potenzial des Kinos darin besteht, uns einen Blick auf die Welt zu ermöglichen, den wir ohne es niemals haben könnten, dann steckt es auch in diesem alternativen Grundriss. Mit nur zwei Filmen haben die Zürchers einen völlig eigenen ästhetischen Kosmos gebaut, den Regeln des narrativen Kinos eine Art filmische Quantenphysik entgegengesetzt. Mit der sind sie einer Chaostheorie des Sozialen auf der Spur, in der menschliche Handlungsmacht bloßer Effekt eines Begehrens zu sein scheint, das die Figuren eher mitreißt, als ihnen zu gehören oder zu gehorchen. Im diesem Kosmos scheint die gleiche unpersönliche Kraft am Werk wie in der Grammatik des Satzes: „Das PDF hat’s zerschossen.“
Am Ende der Welt

Trotz oder gerade wegen dieser radikal relativen Poetik verstehen die Zürchers mehr von Empathie als vor sich hinmenschelnde und autonomiesüchtige Kollegen. Weil sie ihre Figuren nicht in ihren menschlichsten Momenten fassen müssen, um sie als Menschen zu erkennen. Hier ist das Menschliche nicht Text, sondern Kontext, und die Biografien werden nicht ausklamüsert, sondern schwingen mit. Pläne wie Zufälle, Sätze wie Handlungen, Belebtes wie Unbelebtes, alles schleppt ein gewichtiges Netzwerk mit sich und verschiebt zugleich den Kontext dieses Films, triggert seine Welt, die dadurch im Wanken bleibt.
Das Ende dieser Welt kommt vom Ende der Welt, es gehört einer jungen Frau, die von einem Schiff durch ein Bullauge aufs Meer blickt (so große Sprünge traut Das Mädchen und die Spinne sich zu!). Sie ist eine der tollen Kopfgeburten dieses Films, geboren aus einer Anekdote, die man einfach weiterspinnt (über die Spinne aus dem Titel, über ihre konkreten und übertragenen Ausformungen, konnte hier noch gar kein Wort verloren werden, wie über so vieles nicht, weil der Film so dicht ist). Und sie erzählt, wie sie durch die Kabinen und Gänge torkelt und sich fragt, ob jemand merkt, dass alles schwankt. Sie meint das Schiff, aber wohl auch die ganze Welt, wie dieser Film sie uns offenbart, während er mit ähnlich sehnsüchtigem Blick wie seine Figuren fragt, warum sich so wenig verändert, wo doch alles so veränderlich ist.
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