Das Labyrinth der Wörter – Kritik
Gérard Depardieu wagt sich als unbedarfter Illiterat ins Labyrinth der Wörter und entdeckt dadurch unverhoffte Schönheiten des Lebens.

Gérard Depardieu ist einer der bekanntesten und meistbeschäftigten französischen Schauspieler überhaupt. Seit 1970 gab es nicht ein einziges Jahr, in dem er nicht in mindestens einer TV- oder Filmproduktion mitwirkte. Für das vergangene Jahr lässt sich bei Depardieus Rollenwahl eine klare Präferenz erkennen: die Figur des Arbeiters aus der Unterschicht mit schlichtem Gemüt. Nach Mammuth (2010) und Small World (2010) verkörpert er diese auch in Labyrinth der Wörter.
In Jean Beckers Verfilmung von Marie-Sabine Rogers Roman mimt Depardieu den sich mit verschiedenen Jobs über Wasser haltenden Germain Chazes. Mit dem Lesen hat er es nicht so, wie er selbst sagt, und auch sonst ist er nicht der Scharfsinnigste. Über 50 Jahre lang führte er in einem kleinen Dorf in der südfranzösischen Provinz ein ruhiges und einfaches Dasein, bis er bei seiner täglichen Taubeninspektion im Park die 94-jährige Margueritte (Gisèle Casadesus) kennenlernt, die ihren Lebensabend ausschließlich ihrer großen Leidenschaft, der Literatur, verschrieben hat. Bei den folgenden Treffen liest Margueritte dem aufgeschlossenen Germain Stück für Stück bedeutende französische Klassiker vor und eröffnet ihm so eine neue Welt, die Germain für sich unerreichbar wähnte.

Margueritte und Germain bilden in ihrem respekt- und liebevollen Umgang miteinander das rührende Zentrum des Films, ohne ihn dabei in Sentimentalität abgleiten zu lassen. Becker gelingt eine glaubwürdige Entwicklung der Protagonisten. Der Umgang der gebildeten und kultivierten „Wissenschaftlerin, wenn man so will“, wie sie Germains Frage nach ihrem ehemaligen Beruf beantwortet, mit dem Illiteraten ist frei von jeglicher elitärer Überheblichkeit. Seine Anmerkungen nimmt sie stets ernst, mögen sie auch oft etwas unqualifiziert erscheinen. Diese Empathie erklärt sich daher, dass sie das ungewöhnliche zweite „t“ in ihrem Namen ihrem Vater verdankt, der selbst seine Schwierigkeiten mit den Wörtern hatte.
Depardieus Figur wird neben seinem gewohnt präzisen Spiel durch Rückblenden erschlossen, die zeigen, wie er als Kind von seiner Umwelt zurückgewiesen wurde. Bei der Darstellung des liebenswürdigen Tölpels kommt Depardieu einmal mehr seine Physis zugute. Germains wörtliche Ungewandtheit und sein fehlender Sinn für Feingefühl korrespondieren mit der Grobschlächtigkeit, mit der sich dieser „Berg von Mann“ bewegt. Die Erscheinung Marguerittes dagegen, der zierlichen alten Dame, die Germain seiner Feststellung nach mit bloßer Hand zerbrechen könnte, steht nicht nur in Kontrast zu dem Hünen, sondern auch zu der Kraft ihrer Persönlichkeit und ihrer Lesungen und deren Bedeutung für die Entwicklung Germains.

La tête en friche, so der Originaltitel von Roman und Film, meint wörtlich etwa der „brachliegende Kopf“ und beschreibt Germains Ausgangssituation. Auch wenn er des Öfteren Hohn erntet, hat er mit seinen letztlich doch verlässlichen Freunden und mit der Busfahrerin Annette (Sophie Guillemin), die ihn aufrichtig liebt, eine gute Grundlage zum Glücklichsein. Seine Begriffsschwäche, durch die er sich gebrandmarkt sieht, und seine ihm gegenüber meist verächtliche Mutter (Claire Maurier) stehen dem jedoch im Wege.
Die über das Band der Literatur entstandene Beziehung zu Margueritte und die daraus hervorgehende geistige und emotionale Bereicherung verändern Germains Leben grundlegend. Sie ermutigen ihn, kleine Schritte ins Neue zu wagen, um schließlich die dadurch erreichbaren Schönheiten des Lebens genießen zu können. Demgemäß ist Das Labyrinth der Wörter in mehrfacher Hinsicht ein Liebesfilm. Neben der Liebe zu einer Sache, in diesem Fall zur Literatur, geht es um die platonische Liebe zwischen Seelenverwandten, natürlich um die Liebe zwischen Frau und Mann und nicht zuletzt um Mutterliebe, die auch dort vorhanden ist, wo es schwer fällt, sie zu entdecken.
Auch wenn der Erzählstrang der Mutter-Sohn-Beziehung einige tragische Momente enthält, die durch die Überzogenheit der Figur der Mutter freilich entschärft werden: Der Grundton bleibt der einer Komödie. Seinen Humor gewinnt Labyrinth der Wörter schlüssigerweise primär auf der verbalen Ebene, die von feinsinnigen Wortspielereien und amüsanten Dialogen geprägt ist. So entfaltet Jean Becker iein lebensbejahendes Plädoyer dafür, seine Möglichkeiten wahrzunehmen, und huldigt zugleich der Literatur, nicht als Selbstzweck, sondern als Weg zur Selbstfindung und Selbsterkenntnis.
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Kommentare
Bernhard de Reese
Ich würde es nicht Seelenverwandschaft nennen, sondern eher Achtung vor einem wenn auch fast völlig anderen Menschen, woraus sich dann allerdings etwas entwickelt, was man auch Liebe nennen könnte, obwohl das Wort nie fällt und normalerweise für solcherlei Beziehungen nicht vorgesehen ist.
Kathrin
Dieser Film ist einer der schönsten, die ich seit langem gesehen habe. Er hat mich tief berührt.
Gerard Depardieu verkörpert die Rolle des trotteligen, grobschlächtigen Germain perfekt. "Der ist so charmant wie Schleifpapier" - waren meine Worte - dabei aber wahnsinnig liebenswert.
Die Beziehung zwischen Margeritte und ihm ist einfach wundervoll zu verfolgen. Sie gibt ihm das Gefühl, dass ihm seine Mutter nie geben konnte und so entwickelt sich eine platonische Liebe über die Hürden des Altersunterschiedes hinweg.
Der Film lebt neben den beiden großartigen Protagonisten vor allem von seinem Wortwitz und der Tatsache, dass Germain mit seinem neu erworbenen wissen nicht umzugehen weiß und somit bei seinen "freunden" auf verwunderung stößt.
Besonders schön war auch der Schlussmonolog, obwohl ich die Worte nicht mehr genau weiß, eines weiß ich, er hat mich berührt und zum nachdenken gebracht.
EIn großartiger französischer Film!
2 Kommentare