Das freiwillige Jahr – Kritik

VoD: Ulrich Köhlers und Henner Wincklers Das freiwillige Jahr ist ein Film über die Vertracktheit jugendlicher Fluchtbewegungen – mit einem Navi, das nach Venedig will und Wildschweinen, die sich wie alte Bekannte benehmen.

Ein klassisches couple on the run steht am Beginn von Henner Wincklers und Ulrich Köhlers Das freiwillige Jahr: Jette (Maj-Britt Klenke) hat sich noch am Flughafen dagegen entschieden, nach Costa Rica zu reisen, wo sie – das Abitur frisch in der Tasche – ein freiwilliges Jahr in einem Krankenhaus absolvieren wollte. Nachdem sie zurück in den großen Bulli gestiegen ist und ihr Freund Mario (Thomas Schubert) losgefahren, sehen die beiden Spät-Teenager im Wegfahren noch Jettes alleinerziehenden Papa Urs (Sebastian Rudolph) aus dem Taxi zum Gate rennen.

Dann scheint alles bereitgestellt für die große Flucht: eine provinzielle Herkunft, die zum Ausbruch anregt; die Landstraße, auf der man entkommt; das Auto, in dem man auch pennen kann; die für die Ausbruch nötige Abenteuerlust, die sich aus der Kraft der jugendlichen Liebe speist; die aufgeregten „Ziehen-wir's-durch?“-Blicke und ein Navi, das in Richtung Venedig eingestellt ist. Nur die Bewegung will nicht wirklich herausdrängen: Man fährt und fährt, biegt am Ende von Landstraßen ab, kreist in Kreiseln. Man übernachtet irgendwo im Wald und schläft miteinander, aber die Gegend will sich nicht verändern, will nicht fremd werden. Mario hat seiner Mama schon Bescheid gegeben, dass die beiden in der Nähe sind, und derweil läuft Jette ein plötzlich auftauchendes Wildschwein wie ein alter Bekannter über den Weg.

Vertrackte Bewegung

Die ausgedehnte Exposition von Das freiwillige Jahr ist nur eine von vielen vertrackten Fluchtbewegungen, denen der Film beiwohnt: Sie gelingen nie, vielleicht können sie nicht, vielleicht wollen sie auch gar nicht wirklich (jedenfalls findet man Venedig als Ziel doch irgendwann ein wenig albern und schaltet das Navi aus): Noch auf der Flucht flieht Jette vor Mario, mit dem sie streitet, um später vom Vater nach Hause gebracht zu werden, vor dem sie flieht, weil er lieber stur auf dem Costa Rica-Projekt, als sich ernsthaft für die Gefühle seiner Tochter zu interessieren. Nur um dann wieder von ihm eingefangen zu werden und später mit Mario zu streiten, während der Vater sie gerade wieder einfangen möchte, mit dem sie dann streitet und wieder flieht. Immerzu gibt es Übersprungshandlungen, wird abrupt weggelaufen und stürmisch weggefahren.

Identifikation mit der Identitätslosigkeit

Viel Bewegung also in einem Film, der eigentlich auf der Stelle tritt, zumindest wenn die besagte Stelle die Provinz ist, die er bespielt. Das freiwillige Jahr ist im ostwestfälischen Landkreis Lippe verankert, dem man selbst eine ganz eigene vertrackte Lage attestieren könnte. Nicht nur weil die deutsche Filmlandschaft sich hier generell kaum aufhält. Vor allem weil er ein geographisches und soziales Dazwischen ist, sich – ganz wie Jettes Bewegungen – kaum an klaren Fixpunkten orientieren kann.

Wenn der Kamerablick über die Landschaft schwenkt, sieht er Felder mit einer Bergkette als Horizont und zur anderen Seite nur noch Flachland. Die ersten Erhöhungen des Landes fangen hier an, die aus norddeutscher Sicht Berge sind, aus süddeutscher Sicht wohl nicht mehr als Hügel. Die Interieurs hingegen zeigen weder das provinzielle Prekariat noch irgendeine ungestört lebende Oberschicht, sondern ein Einfamilienhausmittelstand, mit Einfahrt für zwei Familienwägen und genügend Zeit, morgens vor der Arbeit noch über die Feldwege zu joggen. Diese Landschaft scheint gerade ihre Spezifität darin zu finden, keine wirkliche zu haben, behauptet eine Identität in der Identitätslosigkeit.

Liebevolles Durchqueren

Wenn die Bewegungen sich widersprüchlich verhalten, dann erscheint das nur konsequent und angemessen. Jegliche gelungene Flucht würde dieser Gegend eine Verortung überstülpen, würde sie als Startpunkt einer Bewegung konturieren, ihr eine eindeutige dramatische Rolle zuteilen, die ihrem dialektischen Wesen nicht wirklich gerecht würde. Köhler hatte dies gewissermaßen in In My Room (2018) gemacht und genau der gleichen Gegend eine (trotzdem: wunderbar uneitel inszenierte) Apokalypse aufgepfropft. Zusammen mit Henner Winckler kocht er nun das Drama trotzdem nicht einfach runter, sondern entwickelt es in wohltemperiertem Maße aus dem Spannungsgeflecht zwischen den drei Hauptfiguren: Jette soll nun ein paar Tage später fliegen, ist aber unsicher, wie „freiwillig“ das Jahr noch ist, und hat vor allem einen Vater im Nacken, der sich viel mehr für die Reise interessiert als Jette selbst und – ständig nach Costa Rica telefonierend – seine eigene Unfähigkeit auszubrechen zunehmend auf seine Tochter projiziert.

Das Resultat dieser Konflikte ist eine Bewegungsenergie, die für den radikalen Ausbruch gar nicht genug ausholen kann, sondern seine Kraft in eine sorgsame Erkundung des Landkreises steckt. Und so durchquert Das freiwillige Jahr ein Dorf, eine Provinz, einen Landkreis, fährt auf Landstraßen und Schleichwegen, schaut nach links und rechts über die Felder, biegt hier und dort ab, lässt auf dem Weg weitere (Familien-)Dramen und Konflikte – wie etwa Urs’ Affäre mit seiner Sprechstundenhilfe – immer nur anklingen, besucht den Sportplatz, die Zimmer und die Einfahrten der Einfamilienhäuser, besteigt Hügel, sieht Orte und Nicht-Orte – und gibt das Gefühl einer Provinz und seiner Bewohner im Dazwischen wie kaum ein anderer Film wieder.

Der Film steht bis zum 25.08.2021 in der ARD-Mediathek.

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